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Oben und Unten

Gastbeitrag von Jürgen Maier,
Geschäftsführer des Forum Umwelt und Entwicklung

»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« – Bertolt Brecht

Die Deutschen reden gerne über die Moral. Von links bis rechts, quer durch das politische Spektrum. Man beruft sich auf die Moral, auf Werte, gar auf Wertegemeinschaften. Nur wer die Moral auf seiner Seite hat, hat eine Chance, gehört zu werden.

Dieser Text dreht sich nicht um Moral. Dieser Text dreht sich um das Fressen, nämlich um Wirtschaftspolitik. Um die Verteilung von Geld und Wohlstand. Seit der neoliberalen Wende Deutschlands in den späten 1990er Jahren herrscht über fundamentale Fragen der Wirtschaftspolitik faktisch nicht nur Konsens in den politischen und gesellschaftlichen Eliten dieses Landes, sondern geradezu Sprachlosigkeit. Wo ein Konsens herrscht, braucht man nicht mehr zu diskutieren, nicht mehr zu argumentieren – man verlernt es sogar. Es hat sich der Glaube durchgesetzt, die aktuelle Wirtschaftspolitik sei »alternativlos«. Merkel hat sie sehr treffend als die »marktkonforme Demokratie« beschrieben; der »demokratiekonforme Markt« gehört längst der Vergangenheit an. Jedenfalls bis 2015.

Dieser Konsens äussert sich nicht nur in aktiver Zustimmung zu dieser marktliberal geprägten Wirtschaftspolitik, wie man es vor allem in wirtschafts- und politiknahen Kreisen beobachten kann. Er äussert sich in der Unfähigkeit, diese Wirtschaftspolitik als Krisenursache auszumachen. Nur ein Beispiel, stellvertretend für viele andere: ein regierungsnaher Thinktank analysiert als Ursache für die Eurokrise, es sei in der Eurozone »nicht gelungen, über eine weitreichende Koordinierung von Wirtschafts- und Finanzpolitik ökonomische Divergenzen abzubauen.«1 Dass es nicht an fehlender Koordinierung, sondern an den falschen Inhalten dieser Politik gelegen haben könnte, die diese Divergenzen verschärfen – so etwas wird gar nicht erst in Betracht gezogen.

Dieser Konsens äussert sich mindestens genauso stark aber auch in gesellschaftlichem Desinteresse an grundlegenderen wirtschaftspolitischen Fragen. Eine durchaus rege Zivilgesellschaft interessierte sich bis vor kurzem kaum für wirtschafts- oder verteilungspolitische Fragen, dementsprechend gering sind ihre Kompetenzen auf diesem Feld. Die TTIP-Kontroverse beginnt das langsam zu ändern, sie weist streckenweise Züge eines wirtschaftspolitischen Re-Alphabetisierungsprogramms auf. Immer mehr Menschen dämmert, dass TTIP kein isoliertes Symptom, sondern Ausdruck einer grundlegend falschen wirtschaftspolitischen Orientierung ist. Wenn die Reichen immer reicher werden und die Ungleichheit immer grösser, dann stimmt die ganze Richtung nicht. Das gilt im eigenen Land genauso wie weltweit.

Zum ersten Mal seit bald 20 Jahren gibt es in diesem Land wieder Kontroversen über die richtige Wirtschaftspolitik. TTIP hat die Regierung, die politisch-ökonomischen Eliten in Bedrängnis gebracht. Der Widerstand gegen dieses zentrale Projekt europäischer Wirtschaftseliten hat so massiv zugenommen, dass das Projekt inzwischen auf der Kippe steht. Nicht zuletzt die Opposition der Gewerkschaften zu TTIP bringt vor allem die Partei des Wirtschaftsministers in Bedrängnis. Wie lange noch will sie eine Politik mittragen, oder ertragen, die alles andere als sozialdemokratisch ist?

Allmählich dämmert vielen Menschen, dass sie bei den letzten Wahlen vielleicht über die Moral abgestimmt haben, aber nicht über das Fressen. Denn beim Fressen gab es nicht viel zu wählen, da sind die Mainstream-Parteien im Kern auf einer Linie. Selbst wenn man beim Fressen Alternativen hätte wählen können, viel geändert hätte es nicht: wesentliche Entscheidung fallen heute jenseits
demokratischer Kontrolle, ausserhalb von Parlamenten, in obskuren Gremien mit zweifelhafter Legitimation, nichtöffentlich, wie etwa der »Eurogruppe«, der EZB, dem Europäischen Rat usw. Wer da wie argumentiert und abstimmt, erfährt niemand, bleibt geheim. So sieht Demokratie in der EU 2016 aus. Mit Wahlen für andere Wirtschaftspolitik zu sorgen, ist ziemlich schwierig geworden.

Exportstaat Deutschland – eine Zwei-Drittel-Gesellschaft

Deutschland am Jahresbeginn 2016. Ein Land, dem es ökonomisch gut geht. Der Jahreswirtschaftsbericht des Wirtschaftsministers meldet: »Deutschland befindet sich auf einem soliden Wachstumskurs. Trotz des schwierigen internationalen Umfeldes ist die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr insgesamt um 1,7 Prozent gewachsen. Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung.«2 Der Bundeshaushalt verzeichnet einen Überschuss von 12 Milliarden Euro. Ein Exportüberschuss von 220 Milliarden Euro – weltweit Spitze.3 Man könnte meinen, ein Land mit solchen Wirtschaftsdaten braucht nicht mehr über das Fressen diskutieren. Weit gefehlt.

Ja, »Deutschland« geht es gut. Aber wer ist das? Schaut man näher hin, merkt man, es sind die oberen zwei Drittel, denen es gut geht. Zwei Drittel, die nach der Episode des »hässlichen Deutschen« im Zuge der Griechenland-Krise in der ersten Hälfte 2015 nun wieder mit sich im reinen sind. Sie haben keinerlei Widerstand geleistet, als die Bundesregierung und andere Regierungen in Nord- und Osteuropa die widerspenstigen Griechen in die Knie gezwungen haben, auch wenn sie damit Millionen ins Elend gestürzt haben. Kurzzeitig erschien der »hässliche Deutsche« wieder am Horizont. Vielleicht hatten manche ein schlechtes Gewissen, aber ernsthaft protestiert haben sie nicht. Aber das schlechte Gewissen ist verflogen. Sie haben die Flüchtlinge aufgenommen, die in diesem Land ungewohnte »Willkommenskultur« machte Kanzlerin Merkel zur TIME Person of the Year, und damit auch ihre Wähler und die ihrer aktuellen und potenziellen Koalitionspartner. Die moralische Lufthoheit ist wieder hergestellt. Der Abscheu über die Pegida-Unmenschen eint sie, Regierung und Zivilgesellschaft. Sie sind die guten Menschen, sie tragen dieses Land, das schlechte Gewissen für die Verarmung breiter Bevölkerungskreise Griechenlands ist vergessen. Vergessen auch, dass man die Armen im eigenen Land genauso verdrängt.

Denn dieses Land ist auch das Land mit der grössten sozialen Ungleichheit des ganzen Euroraums. Es gibt in diesem Land auch ein Drittel Abgehängte, prekär Beschäftigte, Minijobber, Aufstocker. Die Verlierer der Globalisierung, Digitalisierung, Flexibilisierung und anderer Entwicklungen, die von den politischen Eliten aktiv vorantrieben wurden und werden, sind die weniger Gebildeten, weniger Qualifizierten, prekär Beschäftigten. Sie sind zu sehr mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt, um sich mit den Problemen zu beschäftigen, die die oberen zwei Drittel umtreiben. Etwa jeder fünfte Deutsche ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht: 20,6 Prozent und damit 16,5 Millionen Menschen, so das Statistische Bundesamt. Das war etwas mehr als 2013, als der Anteil bei 20,3 Prozent lag – 16,2 Millionen Betroffenen.

»Tiefe Kluft zwischen Arm und Reich« war die Schlagzeile der Süddeutschen am 26.Januar. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung verdienten Mitte der achtziger Jahre fünfmal so viel wie die ärmsten zehn Prozent; heute liegt laut OECD das Verhältnis bei 7:1. Ihnen gehören 62% der Vermögen – vor Beginn der neoliberalen Ära 1998 waren es noch 45%. Die gesamte untere Hälfte der Gesellschaft hat statistisch gerade mal eine schwarze Null – Schulden und Vermögen halten sich die Waage. Der Niedriglohnsektor in Deutschland hat deutlich zugenommen: fast ein Viertel der Arbeitnehmer. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ist hier die Aufstiegsmobilität ungewöhnlich niedrig. Das heißt, viele Beschäftigte haben keine Chance dem Niedriglohnsektor zu entkommen – er wird so zu einer Falle und nicht zum Sprungbrett. Bei der Reallohnentwicklung seit 2000 ist Deutschland eines der Schlusslichter in der EU.

Im unteren Drittel ist Altersarmut schon vorprogrammiert: wer wenig verdient, zahlt auch nur geringe Rentenbeiträge. Die Kinder haben schlechte Bildungschancen. Aus dem politischen System haben sich die meisten verabschiedet. Sie sind das Milieu der Nichtwähler und schon allein deshalb spielen sie für die Parteien keine Rolle. Sie haben keine politische Adresse, die sie wählen könnten, keinen Ort für politisches Engagement. Auch die Gewerkschaften schaffen es nicht, sie zu organisieren. Union, SPD, Grüne vertreten seit 1998 im wesentlichen dieselbe marktliberale Wirtschaftspolitik, bei der die Interessen dieser Bevölkerungsgruppe kaum eine Rolle spielen. Die Linke würde zwar gerne diese Leute vertreten, schafft es aber einfach nicht. Die AfD bisher auch nicht. Bisher – noch nicht. Aber das kann sich ändern.

Das Europa der Verlierer

Schauen wir in unsere Nachbarländer. Dort ist das längst anders. Nicht nur weil die Wirtschaftslage für sehr viele Menschen nicht so gut ist wie in Deutschland, sondern auch weil es politische Akteure gibt, die die Unzufriedenen und Abgehängten sehr viel effektiver an die Wahlurnen holen als in Deutschland. Eine deutsche Marine Le Pen hätte auch hier ein Wählerpotenzial weit über die 8-10% der AfD hinaus, nicht zuletzt auch bei bisherigen Nichtwählern, vor allem wenn sich die Wirtschaftslage spürbar verschlechtert.

Das Gesellschaftsmodell einer liberalen Demokratie gibt es in immer mehr Ländern nur noch in Kombination mit einer neoliberal deregulierten Marktwirtschaft auf dem Wahlzettel. Eine »soziale Marktwirtschaft« ist ein Auslaufmodell – diese gibt es nämlich nicht ohne Umverteilung, und zwar von oben nach unten, nicht umgekehrt. Genau diese Umverteilungs-Komponente ist der neoliberalen Ideologie zum Opfer gefallen, und deshalb gibt es so viele Verlierer. Wo eine »sozialdemokratische« Option einer Marktwirtschaft wegfällt, gerät das liberale Gesellschaftsmodell, die Demokratie selbst unter Druck. Verlierer nehmen es nur noch als Eliten-Projekt wahr, das ihnen nichts bietet. Polen ist dafür ein gutes Beispiel. Eine auf einen liberalen Markt reduzierte Demokratie wird nicht mehr als Chance zur Veränderung wahrgenommen, sondern als Problemursache.

Natürlich ist die Gesellschaft in Ländern wie Frankreich, Polen, den Niederlanden, Skandinavien, Österreich und anderen zurzeit nicht gerade von progressiver Stimmung durchströmt. Aber diese Völker sind auch nicht wirklich zu 30 oder mehr Prozent rechtsradikal. Versetzen wir uns einfach mal in die Lage eines prekär beschäftigten oder arbeitslosen Menschen in Frankreich. Die Hoffnung darauf, dass es dir besser geht als deinen Eltern, hast du längst aufgegeben. Die Hoffnung, dass es dir einfach nur genauso geht wie ihnen, auch. Deinen Freunden und Bekannten geht es auch so. Wenn du einen Job hast, reicht er immer seltener, eine Familie zu ernähren. 25% der Jugendlichen sind arbeitslos. Aber das ist kein Thema für die Politik deines Landes. Sie interessiert sich nicht für dich. Du bist nicht systemrelevant. Deswegen rettet ihre Wirtschaftspolitik Banken und reiche Anleger, nicht dich.

Wenn in Frankreich Sozialisten, Konservative und Grüne schlichtweg keine Antworten darauf haben, wenn immer mehr Menschen Angst um ihre Zukunft empfinden (ob objektiv berechtigt oder nicht, spielt dabei kaum eine Rolle), dann sind die dortigen Wahlergebnisse auch keine Überraschung. Frankreich hat nicht 30% Rechtsradikale, sondern 30% Menschen, denen die Wirtschaftspolitik des bisherigen Mainstreams nichts anzubieten hat, die die Heilsversprechen von Globalisierung und Liberalisierung, von Sparpolitik und neoliberalen »Reformen« nicht mehr glauben.

Oder nehmen wir Polen. Eine »Liberale Bürgerplattform« in Polen gibt sich zwar modern und weltoffen, hat aber in 8 Jahren Regierung nur die Interessen einer urbanen aufstrebenden Elite bedient. Um sozialen Ausgleich hat sie sich nicht nur nicht bemüht, sondern den Verlierern geradezu arrogant zu verstehen gegeben, dass sie nicht zählen. Ist das letzte Wahlergebnis so eine Überraschung? Die neue PiS-Regierung wurde nur von 19% der Wahlberechtigten gewählt, die Hälfte der Wahlberechtigten ging gar nicht erst zur Wahl. Es war mehr ein Misstrauensvotum gegen die ganze Partei-Politik als ein Vertrauensvotum für PiS. In Frankreich kann das bald genauso ablaufen. Die Nationalversammlung wird schon im Juni 2017 neu gewählt. Wenn Dauerrezession und hohe Arbeitslosigkeit bis dahin nicht überwunden werden, kann niemand verleugnen, dass Marine Le Pen eine realistische Chance hat, die Wahl zu gewinnen. Was dann?

Wenn sich die Verlierer des neoliberalen Markt-Europa wehren, tun sie das selten auf die politisch korrekte Art, die die oberen zwei Drittel ihnen vorschreiben wollen. So herrscht Verständnislosigkeit und Sprachlosigkeit. Diesen Menschen hat aber auch jedwede Ausprägungsform »progressiver« Politik nichts mehr zu bieten, weder Parteien noch Zivilgesellschaft. Die Lebensrealitäten des unteren Drittels sind den oberen zwei Drittel weitgehend fremd und gleichgültig – das gilt für politische Parteien, Medien, und Zivilgesellschaft gleichermassen. So füllen andere ein Vakuum, das die »progressive Zivilgesellschaft« selbst nicht füllen will. »Populismus betont den Gegensatz zwischen dem „Volk“ und der „Elite“ und nimmt dabei in Anspruch, auf der Seite des „einfachen Volkes“ zu stehen.« 4

Der Aufstieg der Rechtspopulisten ruft überall ritualisierte Empörungsgesten hervor, im politischen Establishment, in den Medien, in der Zivilgesellschaft. So berechtigt diese Empörung ist, sie bringt nichts – ausser vielleicht noch mehr Zulauf für die Rechtspopulisten bei denjenigen, die von diesem System nichts mehr erwarten und durch genau diese Empörungsgesten sich bestätigt fühlen, dass eine Stimme für die Rechtspopulisten ein Stinkefinger für dieses System ist und seiner politischen Klasse weh tut.

Deutschland – Insel der Seligen?

Es ist unwahrscheinlich, dass sich die blendende Lage der deutschen Wirtschaft bruchlos aufrechterhalten lässt, wenn es in allen Exportmärkten kriselt. Titelstory der FAZ zum Davos- Wirtschaftsforum:

»Millionen Jobs fallen weg. Der Einsatz von Robotern und die weitere Digitalisierung der Wirtschaft werden den Arbeitsmarkt gewaltig durcheinanderrütteln. Fünf Millionen Arbeitsplätze sollen in den nächsten fünf Jahren in den Industrieländern wegfallen. Das sagt eine Untersuchung voraus, die das Weltwirtschaftsforum in Davos am Montag veröffentlichen wird….Die nächste industrielle Revolution, die bereits im Gange ist und unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ läuft, soll demnach mehr als 7 Millionen Arbeitsplätze überflüssig machen – und zwar weniger in den Fabriken, die bereits weitgehend automatisiert sind, sondern in Büros und Verwaltung. Gefährdet sind die Angestellten mit „weißem Kragen“. Demgegenüber stehen nur zwei Millionen neue Stellen….Deutschland ist laut der Studie stärker vom Wandel betroffen als andere Staaten in Europa. Und ausgerechnet Frauen sind sehr viel mehr bedroht vom Verlust des Arbeitsplatzes als Männer.“ 5 Keine rosigen Aussichten. Was werden die Verlierer dieser Entwicklungen tun?

 

Ein Weckruf

Die gesellschaftliche Polarisierung ist alarmierend. Gewalt wird immer mehr Mittel der politischen Auseinandersetzung. Dies muss auch ein Weckruf sein für die Zivilgesellschaft. Auch sie schaut mitten aus dem Zweidritteleuropa verständnislos auf das untere Drittel. Wenn sie weiterhin blind bleibt gegenüber der sozialen Spaltung in den Gesellschaften Europas, wenn sie weiter gemeinsam mit der herrschenden politischen Klasse im Gutverdiener-Sektor dessen Probleme diskutiert, droht sie zur grossen Verliererin dieser historischen Verschiebungen zu werden. Eine »Transformation« zur Nachhaltigkeit in einer polarisierten, sozial gespaltenen, zunehmend gewaltbereiten Gesellschaft ist schwer vorstellbar, eine Fiktion. Die politisch-wirtschaftlichen Eliten werden sich an der Macht halten, notfalls auch mit wenig zimperlichen Methoden. Aber in einer solchen Polarisierung sitzen »Gutmenschen« sehr schnell zwischen allen Stühlen.

Die Antwort der politischen Parteien des Mainstreams ist quer durch Europa immer öfter die Wagenburg, die grosse Koalition. Formal wie in Berlin oder Wien, informell in Brüssel und zunehmend in Paris. In Warschau ist es dafür schon zu spät. Von Wahl zu Wahl werden die Grossen Koalitionen kleiner und kleiner. Aber an der selbst proklamierten »Alternativlosigkeit« der marktliberalen Dogmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik in dieser EU wird nicht gerüttelt, weder in Berlin noch in Brüssel.

Was tut die urbane »progressive Zivilgesellschaft« gegen die soziale Spaltung, was hat sie den nicht systemrelevanten ökonomischen Verlierern zu bieten? Leider wenig bis nichts. Es sind getrennte Welten, Milieus ohne Berührungspunkte. Schon kulturell wird es schwierig. Man ist sich fremd, man bleibt lieber unter sich. In Habitus und Sprache trennen Proletariat oder Prekariat und das akademische Bildungsbürgertum Welten. Man kann oft nicht einmal bei einem Bier und einer Currywurst mal miteinander sprechen, weil die urbane Veganerin auf der Speisekarte einer Dorfkneipe nichts findet.

Fremde Welten in eigenen Land

Die bildungsbürgerlich geprägte »progressive Zivilgesellschaft« engagiert sich für Fragen, die ihr eigenes Milieu interessant findet. So weit, so gut. Sie engagiert sich für Umweltschutz und Klimaschutz , für Datenschutz und Netzneutralität, für die Armen (aber nur diejenigen südlich von Griechenland), und so weiter. Besonders abgehoben geht es im Umfeld der grünen Partei zu: wer auf seinen Parteikongressen über Fragen wie »Zeitwohlstand – Eine neue Zeitkultur?« diskutiert, hat offenbar die Probleme der Besserverdienenden gut erkannt.

Natürlich gibt es auch eine progressive Zivilgesellschaft, die die herrschende Politik herausfordert. Sie kämpft gegen TTIP, weil es die europäischen Standards bedroht – dass Amazon und McDonalds die europäischen Standards jetzt schon bedrohen und Betriebsräte oder Tarifverträge mit allen Mitteln zu verhindern suchen, wird aber ignoriert. Wochen- und monatelange Verdi-Streiks bei Amazon für die Einführung solch elementarer Errungenschaften interessieren niemanden. Eine Kassiererin bei Aldi mit Mindestlohn, eine Minijob-Aufstockerin in einem Reinigungsbetrieb findet in den Diskursen der intellektuellen Zivilgesellschaft nichts, was ihre Lebensrealität berührt. Frauenquoten in Aufsichtsräten, Genderisierung der deutschen Sprache, Verbot sexistischer Werbung auf Werbetafeln des Bezirks Kreuzberg-Friedrichshain, und andere Luxusprobleme – das sind die Themen der Parteien und der feministischen lntelligentsia, aber nicht die ganz normale Ausbeutung in „spezifisch weiblichen“ Berufen. Wer hat sich mit den Streiks der Kita-Erzieherinnen, den Streiks der Charité-Krankenschwestern solidarisiert? So gut wie niemand. Diese Gesellschaft bezahlt Millionengehälter für diejenigen, denen sie ihr Geld anvertraut (vorwiegend Männer), aber den Mindestlohn für diejenigen, denen sie ihre Kinder, ihre Alten und ihre Kranken anvertraut (vorwiegend Frauen). So empörend es ist – es ist schlicht kein Thema für die »progressive Zivilgesellschaft«. Die Opfer, die das untere Drittel für das Elitenprojekt der »Schwarzen Null« bringen muss – uninteressant. Was zählt, ist die Moral, nicht das Fressen.

Wer hat eigentlich gefordert, dass es für die Schwarze Null keinerlei Sozialkürzungen, sondern ausschliesslich Steuererhöhungen für Reiche und Grosskonzerne geben darf? Wie kommt es eigentlich, dass es aus der deutschen »progressiven Zivilgesellschaft« so gut wie keine Solidarisierung mit sozialen Kämpfen in Deutschland gibt, aber mit Flüchtlingen schon? Wie kommt es, dass sich NGOs heute immer noch für Arme im Süden einsetzen, aber nicht für Arme in Europa oder im eigenen Land? Ist es nicht anachronistisch, wenn deutsche NGOs zwar wissen, was gut ist für das Gesundheitssystem in Uganda oder Indien, aber nicht was gut ist für das Gesundheitssystem im eigenen Land? Wenn sie sich für Krankenversicherungen in Ghana einsetzen, aber keine Meinung dazu haben, dass deutsche Politik dafür sorgt, dass in Griechenland mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung keine Krankenversicherung mehr hat und die Säuglings- und Müttersterblichkeit dramatisch ansteigt? Funkstille bei deutschen NGOs zu diesem Thema. Für Griechen sind wir nicht zuständig.

Je mehr die »progressive Zivilgesellschaft« von Gerechtigkeit und Integration redet, desto weniger findet man sie in der eigenen Praxis. Proletarier mit oder ohne Migrationshintergrund – sie kommen in den NGOs kaum vor. Im berühmten Nachhaltigkeitsdreieck »ökologisch-ökonomisch-sozial« kümmert sich kaum jemand um den sozialen Aspekt. Umweltverbände verwenden weit mehr Energie darauf, »marktkompatible Konzepte« oder Partnerschaften mit der Wirtschaft zu entwickeln, als sozialverträgliche Konzepte zu entwickeln. Die anstehende SDG-Debatte droht in dasselbe Fahrwasser zu geraten: was nützt eine Politik von Intellektuellen für Intellektuelle, unverständlich für normale Menschen, die sowohl an den Lebensrealitäten als auch den Machtverhältnissen vorbeigeht?

Flüchtlingspolitik: »Wir« schaffen das?

Die Kontroversen und Konflikte um Flüchtlinge, Migration und Zuwanderung sind dabei, dieses Land »nachhaltig« zu verändern – und zwar weit mehr, als eine Million Zuwanderer zwangsläufig verändern müssten. Längst ist die Flüchtlingspolitik ein Kampf um Identitäten geworden, und das verändert die Art und Weise wie in diesem Land, wie in Europa Politik gemacht wird, tiefgreifend. Der Ton wird rauher, schärfer, hasserfüllter – das Land wird gewalttätiger. Schon mehren sich die Warnungen vor organisiertem rechtsradikalem Terrorismus. Staat und Justiz – und erst recht die Zivilgesellschaft – wirken gegen diese dramatischen Entwicklungen sehr hilflos.

Ja, es ist richtig, Menschen in Not zu helfen, sie aufzunehmen, und dafür darf es auch keine Obergrenzen geben, nicht mal wenn es eine Million ist. Aber es darf, ja es muss sogar eine Debatte darüber geben, wer für die Kosten aufkommt. Schäuble hat bereits eine Benzinabgabe ins Gespräch gebracht. Eine katastrophale Forderung. Jedesmal wenn du tankst, wirst du an die Kosten der Flüchtlinge erinnert. Merkwürdig nur, dass es nur diesen einen Vorschlag gibt. Warum fordert niemand, dass die 10% der Bevölkerung, die 62% des Reichtums dieser Gesellschaft kontrollieren nicht auch mindestens 62% der direkt monetarisierbaren Kosten der Flüchtlinge übernehmen? Oder warum eigentlich nicht 100%? Weil dann die Partei der Kanzlerin endgültig umkippen würde? Oder weil das Bildungsbürgertum dann fürchtet, selber mehr schultern zu müssen? Die sozialen Konsequenzen des Flüchtlingszustroms sind schon ungleich genug verteilt. Sie treffen in erster Linie das untere Drittel. Einer Lidl-Kassiererin, einem DHL-Paketboten kann es durchaus mulmig werden angesichts des Flüchtlings-Zustroms. Für sie sind ungelernte Zuwanderer in der Tat eine Konkurrenz. Die Debatte über die Nichtanwendung des Mindestlohns auf Flüchtlinge hat bereits begonnen. Für den NGO-Funktionär, die Rechtsanwältin, die Bioladenbetreiberin sind Flüchtlinge keine Konkurrenz, im Gegenteil, weder auf dem Arbeits- noch auf dem Wohnungsmarkt. Die oberen zwei Drittel sind auch nicht auf die Leistungen eines überforderten »Lageso« angewiesen, die jetzt noch schwerer zu bekommen sind als ohnehin. Es wird daher Zeit, die Debatte zu beginnen, die Reichen für die Flüchtlinge zahlen zu lassen und nicht die längst kaputtgesparten Kommunen, oder die sozial Schwachen. Man darf diese Debatte nicht ignorieren, nur weil sie auch von rechts geführt wird, aber mit einer ganz anderen Stossrichtung. Wer sie ignoriert, sagt im Klartext: ich fordere Moral, um das Fressen sollen sich andere kümmern. Das kann nicht gutgehen.

Ich kann es verstehen, wenn jemand das Gefühl bekommt, dass die Eliten in Politik, Medien und Zivilgesellschaft ihre Humanität gegenüber Flüchtlingen auf Kosten der sozial Schwachen ausleben. »Wir schaffen das« – aber wer ist »wir«? Ist es nicht sozial blind, wenn Soziologen verkünden »Die Ungleichheit ist groß, und dennoch ging es Deutschland nie so gut heute«?6

Nichts wäre grundverkehrter als dieser Debatte aus dem Weg zu gehen. Wer die Frage stellt, wie man 1 Million Flüchtlinge integriert und wie man die Kosten dafür verteilt, braucht leider auf die hysterische und demagogische Rassismus-Keule in der Diskussion nicht lange zu warten. Fragen beantwortet man aber nicht dadurch, dass man sie tabuisiert. So kann es kaum verwundern, wenn Leute, die solche Fragen stellen, sich bald daran gewöhnen, von den Eliten der Zweidrittelgesellschaft quasi amtlich attestiert zu bekommen, dass sie eben rassistische Neigungen haben. Um so leichter verlieren sie bald die Hemmungen, AfD zu wählen. Nirgendwo sieht man das besser als im Wählerpotenzial der Linken. Von dort wandern mehr Wähler als bei anderen Parteien zur AfD, weil sie diese Fragen haben und ihre bisherige Partei diese Fragen lieber ausblendet statt sie zu beantworten. So bleibt nur der Schluss: so wie sich die politisch-gesellschaftlichen Eliten inclusive weiter Teile der Zivilgesellschaft heute in der Frage verhalten, wer eigentlich das »wir« in »wir schaffen das« ist, fördern sie ungewollt den Rechtspopulismus statt ihm zu begegnen.

Wenn man sich die Tonlage ansieht, in der vor allem in sozialen Medien darüber Auseinandersetzungen geführt werden, stellt sich aber auch eine andere Frage. In Deutschland ist Bildung mehr als in fast allen anderen Ländern Europas ein Privileg der Besserverdienenden, und die soziale Herkunft ist für die Bildungschancen von Kindern der ausschlaggebende Faktor. Darf sich das gutsituierte Bildungsbürgertum in so einem Land verächtlich über ungebildete einfache Menschen äussern, die vielleicht für einfache Parolen anfälliger sind als man selbst? Was tut dieses Bildungsbürgertum, um diesen Zustand zu ändern? Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben: leider so gut wie nichts. Moralische Überheblichkeit gegenüber »bildungsfernen Schichten« ist deshalb fehl am Platze.

Es geht auch anders

Es war nicht immer so, dass die »progressive Zivilgesellschaft« das Fressen ausgeblendet hat. Und es gibt Hoffnung, dass sich das wieder ändert. Die Agraropposition entwickelt sich immer mehr zu einem Bündnis von Verbrauchern und Bauern für eine andere Landwirtschaft und Ernährungskultur. Das Motto der diesjährigen Wir haben es satt-Demo war »Keine Zukunft ohne Bäuerinnen und Bauern«, und die Botschaft war: Solidarität mit den Landwirten, deren wirtschaftliche Existenz immer mehr von der Agrarindustrie unter Druck gerät. Ein Bündnis von Bauern und Verbrauchern entwickelt politische Dynamik, nicht eine Bewegung urbaner Veganer, Tierschützer oder Umweltschützer gegen Bauern. Landwirte brauchen keine urbanen Citoyens, die ihnen sagen, wo es lang geht.

Es geht nicht darum, dafür einzutreten, dass urbane Verbraucher billig Bio-Lebensmittel bekommen oder ihren veganen Lifestyle ausleben können und gleichermassen Junkfood aus Massentierhaltung boykottieren wie auch Qualitätslebensmittel aus bäuerlicher Erzeugung. Viel stärker muss es darum gehen, dass eine bäuerliche und regional verankerte Landwirtschaft überhaupt überlebt. Das aber wird sie nur, wenn die in dieser Landwirtschaft arbeitenden Menschen von ihr tatsächlich leben können – und sich gemeinsam mit ihren Verbrauchern der politisch gewollten Zurichtung auf industrielle Produktion für Weltmärkte verweigern können, völlig egal ob sie Körner, Milch, Gemüse, Eier oder Fleisch erzeugen. Es ist enorm wichtig, diese Diskussionen zu politisieren und nicht bei der moralischen Empörung über industrielle Tierhaltung stehenzubleiben. Es geht also nicht um einen Veggieday in der Woche, sondern darum, die ganze Woche bäuerliche, nicht weltmarktorientierte und konzernkontrollierte Landwirtschaft zu unterstützen – und das mit Genuss und Lebensfreude statt mit Askese und Verzicht zu verbinden. Eine Landwirtschaft, die gute Arbeitsplätze schafft, gute Lebensmittel erzeugt, und ländlichen Regionen eine Perspektive bietet, und in der Konzerne keine Rolle spielen. Genau das, was die Politik seit Jahrzehnten immer mehr erschwert. »Wir haben es satt« geht genau in diese Richtung. 130 Trecker an der Spitze der Demo sind das richtige Signal.

Doch ländliche Regionen sind nicht nur Landwirtschaft. Viele dieser Regionen bluten aus. Junge Menschen müssen abwandern oder enorme Pendlerstrecken in Kauf nehmen, um Arbeitsplätze finden. Der Bevölkerungsrückgang entwertet den Immobilienbesitz vieler Familien, immer weniger Dörfer haben noch einen Laden, Arzt, Schule, andere Infrastruktur. Die Kreativen gehen, zurück bleiben Alte und immer weniger Junge. Welche Antworten haben wir auf diese fatale Entwicklung? Bisher keine. Für den Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft ist es aber von enormer Bedeutung, dass diese Regionen eine Perspektive haben, denn wer keine Perspektive mehr hat, wehrt sich irgendwann auf eine meist unschöne Weise. Wenn wir diese Frage ignorieren, wird der Preis dafür sehr hoch sein.

Die Bewegung gegen TTIP – ein Alphabetisierungsprogramm

Auch die breite Bewegung gegen TTIP gibt Anlass zur Hoffnung. Es gibt viele Gründe, das Projekt TTIP abzulehnen, und so fing die Bewegung als Sammelsurium von Single-Issue-Gegnern an. Umweltschützer, Datenschützer, Landwirte, Gewerkschafter, Imker, Kulturschaffende, und so weiter. Längst ist diese Bewegung darüber hinausgewachsen. Sie hat das hinter TTIP stehende neoliberale Deregulierungs-Projekt verstanden, sieht die Zusammenhänge zwischen Wirtschafts- und Aussenwirtschaftspolitik. Längst fordert sie mehr als nur den Stopp des Projekts TTIP, sondern einen gerechten Welthandel. Den kann es nur mit einer anderen Wirtschaftspolitik in Europa, in Deutschland geben. Darum geht es. Und sie liefert nicht die eine Antwort, die sie selbst gar nicht haben kann – aber sie sorgt dafür, dass diese Diskussion über Alternativen endlich geführt wird, und zwar ergebnisoffen. Nicht nur in Politiker- und Expertenkreisen, sondern in der ganzen Gesellschaft. Sie nimmt sich dieses Recht, das ihr nach der Politikpraxis dieser EU gar nicht zusteht. Längst ist diese Bewegung eine Alphabetisierungskampagne in Sachen Wirtschaftspolitik und Demokratie geworden. Immer mehr Menschen verstehen: die herrschende Wirtschaftspolitik des europäischen Parteien-Mainstreams ist eben doch nicht alternativlos. Die brachiale Zurichtung von Wirtschaft und Gesellschaft auf die globale Wettbewerbsfähigkeit, auf Exporterfolge in aller Welt zerstört die Fundamente des europäischen Modells der sozialen Marktwirtschaft, und zerstört gleichzeitig die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen in Afrika und anderswo. Man kann Wirtschaftspolitik und Aussenwirtschaftspolitik im Zeitalter der Globalisierung nicht getrennt diskutieren und auch nicht getrennt ändern. Das ist der Kern des Problems. Die »progressive Zivilgesellschaft« hat mit der TTIP-Kampagne diesbezüglich bereits viel erreicht, sehr zum Erstaunen von Regierung und Parteien, und das ist eine enorme Chance. Wir dürfen sie nicht verspielen.

Raus aus der elitären Subkultur

Eine »progressive Zivilgesellschaft« verdient diesen Namen nur, wenn sich aktiv für eine Politik einsetzt, die dem unteren Drittel der Gesellschaft wieder Perspektiven bietet. Sie wird es nicht verhindern können, dass es Rechtsradikalismus gibt. Aber sie kann erheblich dazu beitragen, dass er nicht von 30% der Bevölkerung gewählt wird. Es wird Zeit, dass sich die »progressive Zivilgesellschaft« in Deutschland aus dem Schneckenhaus ihrer eigenen subkulturellen und oft genug elitären Nischen begibt und sich einmischt. Einmischt in die Realitäten eines auseinanderdriftenden Landes. Einmischt in das reale Leben, vor allem derjenigen, denen die marktliberale Politik der Eliten nichts mehr zu bieten hat. Dazu muss man vor allem mit diesen Menschen reden, auf Augenhöhe und in normaler Sprache, und nicht nur über sie.

Das bedeutet aber auch weitreichende Konsequenzen in Sprache und Habitus. Es bedeutet, etwas weniger mit Ministern und Konzern-Nachhaltigkeitsbeauftragten zu reden, und es bedeutet weniger so zu reden wie sie. Deswegen ist dieser Text auch nicht in elitärer Gendersprache oder Soziologenkauderwelsch geschrieben, sondern in normalem Deutsch. Es bedeutet, stattdessen etwas mehr mit normalen Menschen zu reden, zum Beispiel jenen 85% ohne Hochschulstudium, vorzugsweise ausserhalb der Metropolen. Mit ihnen auch mal ein Bier trinken und eine nicht-vegane Currywurst essen, auch wenn es dich echte Überwindung kostet. Ihre Sorgen und Bedürfnisse ernstnehmen, und das heisst auch, dass bei solchen Auseinandersetzungen selber auch mal zuhören, dazulernen und nicht nur meinen, den anderen mal beizubringen wo es lang geht.

Letztlich ist es eine Richtungsentscheidung: akzeptieren wir die soziale Spaltung und sehen zu, dass wir auf der Gewinnerseite landen – oder akzeptieren wir sie nicht und arbeiten daran, dass die Reichen wieder ärmer werden, damit der Kuchen wieder gerechter verteilt wird. Damit das untere Drittel wieder dazugehört. Damit ein Arbeiterkind wieder eine Chance auf ein Studium hat, mit oder ohne Migrationshintergrund. Damit diejenigen, denen wir Kinder und Alte anvertrauen, nicht in Armut leben müssen. Für diejenigen, die solche einfache Sprache nicht verstehen: Damit die soziale Säule des Nachhaltigkeitsdreiecks eine proportional stärkere Berücksichtigung findet.

Wir werden dieses Wirtschaftssystem nicht verändern, nicht sozialer und nachhaltiger machen, wenn wir nicht alles versuchen, dass die inzwischen vielen und potenziell noch sehr viel mehr seiner Verlierer gemeinsam mit uns in dieselbe Richtung gehen. Unterlassen wir das, sitzen wir vermutlich als naive Gutmenschen bald zwischen allen Stühlen, so wie es in vielen Nachbarländern längst der Fall ist. Deshalb: Wir müssen endlich wieder über das Fressen reden! Über die Moral reden wir schon genug. Die Kampagne gegen TTIP, die Bewegung für eine andere Landwirtschaft und Ernährung haben Erfolg, weil sie eben nicht nur über die Moral reden, sondern auch übers Fressen – sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne.

Wir können nicht fassungslos zusehen, wie unsere Nachbarländer in antidemokratischen Rechtspopulismus abdriften und einfach nur hoffen, dass uns das irgendwie erspart bleibt. Es ist sinnlos, zu glauben, dass wir mit Appellen an Anstand, Moral und Vernunft irgendwen erreichen ausser diejenigen, die sowieso schon zum bildungsbürgerlichen Milieu gehören. Was tun wir dafür, dass sich Deutschland nicht wie Frankreich, Polen, Niederlande oder Skandinavien entwickelt und 30- 50% der Bevölkerung sich antidemokratischen Kräften zuwenden? Bisher ist die »progressive Zivilgesellschaft« allenfalls Zuschauer, vielleicht ein fassungsloser, klagender, lamentierender Zuschauer, aber kein Akteur. Das muss sich ändern. Darüber müssen wir reden. Dringend. Notfalls auch mal politisch unkorrekt. Dazu möchte dieser Text beitragen.

Jürgen Maier 1.2.2016

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1  http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/sonstiges/Ausblick2016.pdf
2  http://bmwi.de/DE/Mediathek/publikationen,did=750264.html
3  http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/exportueberschuss-deutschland-spitzenreiter-bei-leistungsbilanz- saldo-a-1016265.html
4  https://de.wikipedia.org/wiki/Populismus
5  Titelstory der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 17.1.2016.
6  Stephan Lessenich, SZ vom 25.1.16

3 Kommentare

  1. Werner Gerst sagt

    Perfekt und in jedem Wort mir aus der Seele gesprochen. Den Text könnte ich ohne irgend einer Änderung mit Unterschreiben.

    Nur an der Einsicht der Angesprochenen zweifele ich denn viele Denken (umgekehrt wie im Lotto), mich wird es schon nicht treffen !

  2. Stimme dem Kommentar von Stefan 100% zu. Auch die Passage zu Vegan. Ich bin noch nicht Veganer, doch diese Gruppe hat die Kraft die industrielle Landwirtschaft zum umdenken zu bewegen.

  3. Stefan sagt

    Sehr, sehr, sehr guter Text! Ich werde ihn auf jeden Fall unter Freunden/Bekannten u. Familie weiterempfehlen und hoffe, dass er noch zahlreich gelesen wird.

    Gerne würde ich ihn auch in den großen Tageszeitungen des Landes wiederfinden!

    Eine kleine ironische Bemerkung zum nicht-veganen Curry-Wurst Essen erlaube ich mir allerdings: wenn das akademische Bildungsbürgertum nun in Scharen sich an die Frittenbuden stellen sollte, um sich bei Wurst u. Pommes mit dem Proletariat / Prekariat zu unterhalten, würde indirekt vermutlich doch industrieller Tierhaltung u. Status Quo in der Agrar-und Lebensmittelbranche Unterstützung geboten.

    Bliebe noch zu hoffen, dass der Nutzen und Ausgang des Gesprächs die positiven geschäftlichen Folgen für die Agrarindustrie überwiegt!

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