denkhausbremen veröffentlicht einen Forderungskatalog für eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Zukunft. Das Besondere daran: Das Dokument stellt die Ideen von bundesweit 25 Initiativen in den Vordergrund, bei denen Menschen mit kleinem Geldbeutel sich selbst vertreten. Die Forderungen spiegeln daher die Perspektiven von Menschen wider, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind, aufgrund einer Behinderung oder Krankheit eingeschränkt werden, einen Migrationshintergrund haben oder obdachlos sind. Damit hat das Papier eine andere Tonlage als die oftmals von Expert*innen, Funktionär*innen oder Thinktanks dominierten Beiträge.
Der Katalog mit dem Titel: “Auf der Suche nach dem sozialen 1,5 Grad Ziel – Forderungen für eine gerechte Zukunft” ist das Ergebnis einer mehrjährigen Reise durch Deutschland. Seit 2018 führte denkhausbremen unzählige Gespräche, besuchte Initiativen vor Ort und organisierte Klausuren mit verschiedenen Gruppen. Eine größere Konferenz in Bremen diente schließlich als Plattform, um die vielfältigen Stimmen von Bürger*innen, Expert*innen, Bundestagsabgeordneten und Initiativen zusammenzuführen.
Das vorliegende Ergebnis ist ein eindringlicher Appell, die Zukunft gemeinsam und inklusiv zu gestalten. denkhausbremen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – im Vordergrund stehen die Anliegen der beteiligten Gruppen. Der Katalog plädiert für Solidarität, faire Chancen und gesellschaftlichen Zusammenhalt, Werte, die in Sonntagsreden oft beschworen, jedoch selten in praktische Politik gegossen werden.
“Eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Zukunft kann nur gelingen, wenn möglichst viele Menschen an Bord sind und mitentscheiden“, so denkhausbremen. “Unser Beitrag dazu liegt jetzt auf dem Tisch.”
Hier den Forderungskatalog als pdf herunterladen
Vorwort aus dem Forderungskatalog:
Bei den Debatten um unsere Zukunft kommen vor allem die zum Zug, die laut sind oder einen direkten Draht zur Machthaben. Die Zutaten dafür sind der Zugang zu Ressourcen und ein gutes Netzwerk – und diese sind sehr ungleich verteilt. Außerdem werden Tatkraft und Energie benötigt, über die vor allem diejenigen verfügen, die nicht permanent mit „über die Runden kommen” beschäftigt sind. Diese Ungleichheit wirkt wie ein Gift für die Demokratie, die ihre Legitimation daraus schöpft, dass möglichst viele Menschen die Chance und Möglichkeit haben, sich gleichberechtigt an der Meinungsbildung und den daraus resultierenden Entscheidungen zu beteiligen. Ein in der Praxis zu selten gelebter Anspruch und eine zunehmend individualistische Gesellschaft verstärkt diese Tendenz.
Hinzu kommt, dass der Staat, der ebenfalls das Wohl aller Bürger*innen im Auge haben sollte, sich zurückgezogen oder Kompetenzen abgebaut hat. In dieses Vakuum drängt mit Macht eine Ökonomisierung, die mittlerweile viele Lebensbereiche durchdrungen hat. Ob in der Kinderbetreuung, Bildung, im Wohnen, im Gesundheitswesen oder in der Pflege: Überall machen sich private Investoren auf Kosten öffentlich geführter Einrichtungen breit. Auch die Parteien haben viel von der Integrationskraft eingebüßt, die ihnen laut Grundgesetz bei der demokratischen Willensbildung zukommt. Insbesondere jene, die sich im politischen Spektrum für Gerechtigkeitsfragen zuständig fühlen, bedienen nur noch einen Teil der Arbeitnehmerschaft, haben sich akademisiert oder sind dabei, sich zu einer urbanen Milieupartei einzudampfen. In der Folge haben sich Bevölkerungsgruppen, die sich nicht mehr repräsentiert fühlen als Nichtwähler*innen von der politischen Debatte abgemeldet oder sich Populist*innen zugewandt.
Glaubwürdige Gemeinschaftlichkeit kann nur gelingen, wenn der immer obszöner werdende Reichtum wirksam beschnitten und zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben herangezogen wird. Dazu sind große Widerstände zu überwinden, wozu die politisch Verantwortlichen oft nicht die Kraft aufbringen können oder wollen.
Es ist daher auch an der sogenannten Zivilgesellschaft, die Demokratie in die eigenen Hände zu nehmen. Doch auch in diesem Feld sind die Kräfte ungleich verteilt. Gut orchestrierte Lobbyverbände haben nicht selten den direkten Zugang zur Macht. Auch den etablierten großen Umwelt- und Sozialverbänden gelingt es, je nach politischer Großwetterlage, teilweise Einfluss auf öffentliche Debatten und politische Entscheidungen zu nehmen. Im Gegensatz dazu bleiben Bevölkerungsgruppen, die wenig Geld haben, sich ohnmächtig fühlen oder kulturell abgehängt sind, weitgehend außen vor. Wenn überhaupt, wird über sie anstatt mit ihnen geredet. Das trifft gleichermaßen auf Menschen zu, die durch eine Behinderung eingeschränkt sind oder nach Deutschland zugewandert sind.
Der vorliegende Forderungskatalog stellt daher die Ideen und Perspektiven für eine gerechtere Zukunft dieser Menschen und Gruppen in den Vordergrund. Er ist das Ergebnis einer Reise von denkhausbremen, die ab dem Jahr 2018 quer durch Deutschland führte. Wir haben Menschen aus bundesweit 25 Initiativen kennengelernt, ihnen zugehört und aufgeschrieben, was sie antreibt und was sie zu sagen haben. Herausgekommen ist dieser Appell, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit; im Vordergrund stehen die Anliegen der beteiligten Gruppen. Es geht um Solidarität, faire Chancen für alle und Zusammenhalt – Gedanken, die in Sonntagsreden oft beschworen, aber selten konsequent in praktische Politik umgesetzt werden.
Die Zukunft wird nur dann sozial gerecht und ökologisch verantwortungsvoll sein, wenn möglichst viele Menschen an Bord sind und mitentscheiden. Unser Beitrag dazu liegt jetzt auf dem Tisch.
Erkundung
Am Anfang stand die Idee von etwas Neuem: Forderungen für eine gute Zukunft – konkret und ohne wolkige Sprechblasen aus der Sicht von Menschen, die nicht in der Mitte der Gesellschaft zu Hause sind. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass wir da nicht so recht vorangekommen sind. Zu Recht ließe sich einwenden, dass uns weder eine besonders originelle Beschreibung der Ausgangslage gelungen ist, noch unsere eingedampften Forderungen hinreichend exklusiv sind. Die großen Sozialverbände und die progressiven Kräfte in Wissenschaft und Politik werden sicherlich zu einem ähnlichen Ergebnis kommen. Ein vorzeigbares Forderungspapier hätten wir auch mit einer Kurzfassung haben können: Die Spitzenverbände der Öko- und Sozialbewegungen in einen Seminarraum mit Besprechungskeksen nach Berlin einladen und gemeinsam an einem vorab verschickten Entwurf feilen. Zack – fertig!
Andererseits wären wir so nie zum Eigentlichen vorgedrungen – und das war dann doch neu. Möglicherweise nicht nur für uns. Und dieses Neue liegt im Wesen unserer Erkundung, im Prozess und nicht so sehr im Ergebnis. Wir haben unzählige Einzelgespräche geführt, Initiativen vor Ort aufgesucht und uns mit verschiedenen Gruppen in ein Tagungshaus zurückgezogen. Es sind die Begegnungen, die Haptik der verschiedenen Orte und die zarten Zwischentöne, die wir bei unserer Reise erleben und fühlen durften.
So wie die tatkräftige Energie der selbstorganisierten Wohnungslosen, die sich politisch nicht ins Abseits stellen lassen. Um sich davon anstecken zu lassen, hilft ein gemeinsamer Teller Erbsensuppe mit Wursteinlage ungemein. Oder die kirchliche Widerstandszelle in der Innenstadt gegen den Turbokonsum, die einen Raum hat, “in dem niemand abgezockt wird”. Den muss man schon persönlich erlebt haben, um den Kontrast zwischen H&M, Starbucks und all den anderen Shoppingtempeln und dem friedlichen Innenhof mit Café nachzuempfinden. Auch das Treffen mit der Sozialinitiative in Norddeutschland wäre auf einer Videoplattform wie Zoom so nicht möglich gewesen. Das kam eher einer gemeinsamen Therapiesitzung gleich. Hier müsste man schon ein Herz aus Stein haben, um davon nicht tief berührt zu sein. Und immer wieder die Geschichten von Menschen, die durch Krankheit, Sucht, schwierige Lebenssituationen oder was auch immer zurückgeworfen wurden, in der Hartz-IV-Mühle landeten – und dabei nicht komplett kaputt gegangen sind. Und die sich jetzt für ein gerechtes und solidarisches Morgen einsetzen. Jede einzelne wäre es wert, hier näher beleuchtet zu werden.
Es ist ja auch nicht so, dass Menschen mit wenig Geld keinen Blick für Öko-Probleme haben. In guter Erinnerung sind noch Stimmen wie: Ich würde meinen Kindern gerne diese Biomilch aus der “Stählernen Kuh” kaufen. Aber wir landen immer wieder bei der Tüte 1,5 % H-Milch von Aldi, Lidl und Co. – da müssen wir sparen. Oder die Arbeitsloseninitiative, die sich gegen Massentierhaltung engagiert und für Klimaschutz auf die Straße geht…
Am Anfang unserer Erkundung war aber auch eine gehörige Portion Skepsis. Auf beiden Seiten. Einige der aufgesuchten Initiativen reagierten zunächst reserviert und wussten wohl auch nicht, wie sie diesen Prozess verbuchen sollten. Damit verbunden war sicher der Gedanke, dass die Leute von denkhausbremen vielleicht einfach nur Informationen absaugen wollten, ohne etwas dazulassen. Umgekehrt ging es uns genauso. Reden, zuhören und ausreichend gemeinsame Zeit zu haben, hat da geholfen.
Eine größere Konferenz in Bremen war dann die von uns geschaffene Plattform, um die vielschichtigen Stimmen zusammenzuführen. Gemeinsam mit bundesweit relevanten Expert*innen, Student*innen, Bürger*innen, Bundestagsabgeordneten und Engagierten aus den beteiligten Initiativen saßen wir am Gruppenarbeitstisch oder auf dem Podium. Und es gab einen regen Austausch in den Kaffeepausen zwischen Lebenswelten, die üblicherweise keine Schnittmenge haben.
Wie aber packt man diese Eindrücke in ein Forderungspapier? Zum Beispiel den Wunsch nach einer respektvollen Behandlung auf dem Amt. Oder den Ruf nach einem Ende abwertender Begriffe wie „sozial schwach“ oder „bildungsfern“. Oder die Kritik am sozialdemokratischen Gewerkschaftsmantra, dass man sich durch sogenannte gute Arbeit einen selbstbestimmten Platz in der Gesellschaft erkämpfen könne. Das mag für die Mehrheit gelten, aber nicht für die vielen, die aus welchen Gründen auch immer eben nicht auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt funktionieren.
Wir sind gemeinsam mit dem erklärten Ziel angetreten konkrete Vorschläge zu erarbeiten. Das ist uns nicht ganz gelungen. Bei unseren Debatten sind wir immer wieder beim großen Ganzen gelandet: Bei der Profitwirtschaft oder dem Kapitalismus. Aber warum sollte uns auch das ewige Dilemma erspart bleiben, mit dem Aktivist*innen oder Bewegungen in der Regel konfrontiert sind: Möglichst pragmatisch die nächsten erreichbaren Schritte zu gehen, ohne dabei die Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Dementsprechend liegen auch die nachfolgenden Veränderungsvorschläge nicht immer auf derselben Ebene.
Ebenso wie die Wirtschaftsordnung lässt sich auch die öffentliche Debatte nicht ohne Weiteres neu erfinden oder auf links drehen. Menschen mit wenig Geld kommen darin kaum vor und schon gar nicht, wenn es um die Gestaltung der Zukunft geht. Das spiegeln auch die etablierten Medien wie Zeitungen, Fernsehen und Radio wider. Passend dazu die Selbsteinschätzung eines Redakteurs auf einer Fachtagung für Sozialjournalismus, auf der wir zu Gast waren, der seine Branche augenzwinkernd als „mittelstandsverseucht“ charakterisierte. Macher*innen und Leserschaft von FAZ, Süddeutsche und Co. haben in der Regel wenig Berührungspunkte mit der Lebenswirklichkeit von Armen. Kein Wunder also, dass die Berichterstattung über die soziale Dimension des gesellschaftlichen Wandels Leerstellen aufweist und Empathie vermissen lässt.
Dennoch ist es uns gelungen, einen Prozess in Gang zu setzen, der den Wandel quer durch die üblichen Milieus diskutiert. Von der Universitätsprofessorin bis zu Menschen, die von der Hand in den Mund leben, war alles dabei. Dafür mussten wir uns gegenseitig aushalten und kennenlernen. Aber es hat sich für alle gelohnt. Dafür sind wir sehr dankbar.