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Offene Arbeit: Raum für Engagement und Gemeinschaft

Wolfgang Musigmann und Matthias Weiß von der “Offenen Arbeit” in Erfurt im Gespräch mit denkhausbremen. (Titelfoto von rechts: Matthias Weiß, Wolfgang Musigmann, Peter Gerhardt)  

denkhausbremen: Wie müssen wir uns die Offene Arbeit zu DDR-Zeiten vorstellen?

Offene Arbeit: Die Offene Arbeit wurde 1979 ins Leben gerufen und das hat Menschen angelockt – Intellektuelle aber auch Arbeiter. Besonders war, dass hierher auch Ausgestoßene aus der DDR-Gesellschaft kommen konnten. Das waren z.B. Nichtangepasste, Kriminelle und Menschen die viel Alkohol getrunken haben; andere Drogen gab es in der DDR fast nicht. Außerdem wurden hier vor 1989 auch Zeitschriften gedruckt und herausgeben die nicht genehmigt waren. Das war gefährlich.

Und wie wurden diese Zeitschriften verbreitet? Was war der Vertriebsweg?

Mit der Post, persönlich und wenn man nach Berlin gefahren ist, dann hatte man welche dabei. Auf solchen Wegen eben. Gedruckt haben wir mit Ormig-Maschinen (Matrizendrucker) und mit Durchschlagpapier (Durchschreibepapier). Wir haben dann zum Beispiel 6 Durchschläge in die Schreibmaschine gespannt. Es gab hier übrigens auch eine Umweltbibliothek mit Büchern wie „Global 2000“, die es eigentlich in der DDR nicht geben durfte.

Was hat sich dann geändert, als es auf die Wende zusteuerte? War die Offene Arbeit vor allem ein Inkubator für den Widerstand?

Die Menschen von der Offenen Arbeit hatten 1989 den Mut als erste auf die Straße zu gehen. Man kann schon sagen: Wir sind vorweg gelaufen und die anderen dann hinterher.

Ist das Wort Wende überhaupt aus Ihrer Sicht in Ordnung?

Wolfgang Musigmann: Nein! Den Begriff hat Egon Krenz erfunden. Ich nenne die Ereignisse eine friedliche Revolution. Andere wiederum meinen, dass es sich um eine nicht vollendete Revolution gehandelt hat. Revolution deshalb, weil die Macht der DDR gebrochen wurde. In der Regel bilden sich dann auch neue Strukturen – hier war aber das Besondere, dass die Freiräume zu hundert Prozent durch westdeutsche Strukturen besetzt worden sind. Darum bleibt festzuhalten: Diejenigen die eine demokratische und sozialistische Gesellschaft wollten, die haben sich nicht durchgesetzt. Die Bürgerbewegung wollte eigentlich eine Entmilitarisierung mit Austritt aus der Nato und dem Warschauer Vertrag. Geheimdienste sollte es auch keine mehr geben.

Wir erinnern uns da an ein kleines Zeitfenster der Geschichte, in dem die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler den politischen Ton angeben haben. Und dann kam der Westen mit seinen Strukturen und hat hier alles platt gemacht? Kann man das so sagen?

Wolfgang Musigmann: Zu dem “Plattwalzen” würde ich gerne noch mal was sagen. Das ist so ein Denken, dass ich gerne berichtigen würde. Mein Leben ist NICHT platt gemacht worden. Ich habe versucht in der DDR individuell zu leben und tue das auch heute noch in der BRD. Dieser Ort hier, Offene Arbeit, ist auch nicht platt gemacht worden. Auf die Industrie und Wirtschaft trifft das schon eher zu – da ist vieles platt gemacht worden. Es sind auch Dinge untergegangen, weil Menschen in den Westen gegangen sind und keiner sich mehr gekümmert hat.

Dann versuchen wir unsere Frage besser zu formulieren. Wie hat sich die Offene Arbeit auf die neuen Gegebenheiten eingestellt?

Matthias Weiß: Ich würde die Ereignisse so beschreiben: Der Traum für eine offene Gesellschaft, mit dem wir 1989 auf die Straßen gegangen sind, wurde spätestens mit der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 schwer enttäuscht. Auf einmal waren Allianz für Deutschland und CDU vorne und nicht etwa die Leute, die an vorderster Front für einen Neuanfang gekämpft hatten.
Als ich 1992 zur Offenen Arbeit gekommen bin, war diese Ernüchterung auch hier zu spüren. Außerdem gab es da noch die Stasi-Akten : Wer war IM und was wurde alles über wen bei der Stasi aufgeschrieben?
Dass der Westen uns hier mehr oder weniger übernommen hat, lag aber nicht nur an den neuen Wertstrukturen, sondern auch an den Leuten hier, die vor allem die D-Mark gewählt haben.
Viele Themen liefen auch einfach weiter: Wir haben uns weiterhin um die Kriegsdienstverweigerungen gekümmert. Wir kamen ja aus der Schwerter zu Pflugscharen Tradition. Auch die Bewahrung der Schöpfung hat uns nach 1989 genauso beschäftigt, wie unser Engagement gegen die Atomkraft. Nach 1990 sind aber auch Leute von uns in die Politik gegangen.

Ihr habt euch in erster Linie mit Öko-Themen wie Atomkraft befaßt?

Nicht nur. Frieden und Gerechtigkeit waren für uns gleichermaßen wichtig. Unsere Kontakte reichten hier in Erfurt in die Autonome Hausbesetzer Szene bis hin zu Attack oder die Rote Hilfe. Auch wenn heute Leute von „Fridays for Future” kommen und Unterstützung brauchen, dann helfen wir. Grundsätzlich gilt: Wir haben unser eigenes Angebot, aber auch andere können z.B. unsere technischen und räumlichen Möglichkeiten gerne nutzten.

Und soziale Themen?

Wir bieten hier eher persönliche Begleitung an, als wie zum Beispiel eine klassische Arbeitslosenberatung.
Seit über 20 Jahren gibt es bei uns eine regelmäßige Rechtsberatung für Migranten und Flüchtlinge. Dieser Bereich hat 2015 und danach – wie man sich vorstellen kann – einen großen Raum eingenommen. Da geht’s dann auch um ganz praktische Unterstützung, wie bei der Suche nach Wohnungen, Arbeit oder Kindergartenplätzen. Auf der informellen Ebene werden hier auch mal Jobs vermittelt und wenn jemand kein Geld für Freizeiten hat, dann versuchen wir das zu besorgen.
Hier ist aber auch Raum für Menschen die Hartz IV bekommen haben – viele davon sind irgendwann erwerbsunfähig geworden. Diese Menschen haben dann sehr wenig Geld.
Auch Menschen mit psychischen Problemen oder leichten geistigen Behinderungen haben hier ihren Platz, welche ansonsten eher in speziellen Einrichtungen betreut werden. Dann ist es unsere Aufgabe auf gegenseitige Wertschätzung und Akzeptanz zu achten.

Das klingt so, als wenn hier schon Inklusion gelebt wurde, lange bevor der Begriff Karriere gemacht hat…

Inklusion ist für uns nicht nur bei Menschen mit Beeinträchtuigungen ein Thema sondern auch z.B. bei Migranten. Wir versuchen auch weitere Randgruppen in den Fokus zu nehmen.

Ganz schön unübersichtlich. Habt ihr denn einen Katalog von Dingen die Ihr macht oder die ihr auf keinen Fall macht?

Unsere Vielfalt ist manchmal für Außenstehende schwer nachzuvollziehen. Ein Fußballverein erklärt sich von alleine. Am besten kann man sich uns als offen Gemeinde vorstellen, wie bei den Befreiungstheologen in Lateinamerika. Befreiung von Strukturen ist sowieso ein durchgehendes Thema bei uns.
Regelmäßig engagieren sich hier ungefähr 40 bis 50 Personen ehrenamtlich, die von uns Hauptamtlichen unterstützt werden. Dazu gehören wir beide auch.

Und wer kommt so zu Euch?

Das hängt ganz vom Thema ab: Nach unserer Beobachtung kommen zum Beispiel finanziell schwächer gestellte Menschen insbesondere dann, wenn es hier kein bestimmtes Programm gibt, sondern wir hier einfach nur geöffnet haben, es was zu trinken gibt und Raum zum quatschen geboten wird. Bei Themen wie dem Ökologischen Fußabdruck sind dann eher themeninteressierte Menschen hier.

Wie entscheidet Ihr? Müßten wir Euch beide überzeugen um hier was zu machen?

Es gibt den Vorbereitungskreis, der hier solchen Entscheidungen – grundsätzlich immer im Konsens – trifft. Da kann im Prinzip jeder und jede der oder die regelmäßig hier ist mitmachen – zur Zeit sind das ungefähr acht Leute.
Wir Hauptamtlichen haben natürlich einen Informationsvorsprung und wir tun gut daran, dass wir den nicht ausnutzen, sonder mit den anderen teilen.

Und wie ist aus eurer Sicht der Zustand der Republik? Das ist natürlich eine große Frage…

Es gibt einen sehr großen Reichtum und es gibt viele Menschen die gerade so eben durch den Tag kommen. Das fügt unserer Gesellschaft Schaden zu und führt zu Unsicherheit und Kritik an den etablierten Parteien. Die soziale Schere geht auseinander – Erfurt ist da vergleichsweise noch ganz gut aufgestellt, weil es der Wirtschaft hier nicht so schlecht geht. Darüber hinaus ist es auch bedenklich, dass es mit der AFD eine völkische, faschistische und nationalistische Partei gibt, die außerhalb der Demokratie operiert. Die gießen zusätzlich Öl ins Feuer. Abgesehen davon ist die sogenannte Werteunion in der CDU auch nicht viel besser.
Nichtsdestotrotz ist der Zustand der Gesellschaft aber noch ganz okay. Wir haben zu essen und können Einfluss nehmen.

Kann man das Modell der Offenen Arbeit auch exportieren? Ist das sogar eine neue Sinnstiftung für Kirche, der ja die Leute in Scharen davonlaufen?

Man kann das Konzept nicht einfach exportieren. Kirche muss dahin gehen wollen, wo die Leute sind. Einfach die Türen zum Gottesdienst öffnen – das reicht nicht. Wir sehen uns in der Tradition von Dietrich Bonhoeffer, der eine Kirche ausgerufen hatte, die sich ums Gemeinwohl kümmert und eben nicht nur um die eigenen Mitglieder.
Als vor 10 Jahren, hier in Erfurt, ein besetztes Haus geräumt wurde, haben sich die jungen Leute erst mal hier getroffen. Da hat das Kreuz an unserer Wand nicht gestört.
Die wussten, dass wir hier einen Raum haben, wo niemand abgezockt wird. Unser Modell der Offenen Arbeit – welches es übrigens auch noch in Jena und Ost Berlin gibt – setzt voraus, dass die Kirche bereit ist Räume, Finanzen und Kontrolle abzugeben. Die Kirche muss aushalten, dass es hier nicht um verdeckte Mitgliederwerbung geht und dass der traditionelle Gottesdienst nichts für den modernen Menschen ist.

Danke! 🙂

Zur Person:
Wolfgang Musigmann
Der Diakon und Diplom-Sozialpädagoge ist Leiter der Offenen Arbeit und setzt sich mit Herzblut für eine offene und solidarische Gesellschaft. Er engagiert sich darüber hinaus für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Im Jahr 1989 gehörte er zu den Initiatoren der friedlichen Revolution in der damaligen DDR.

Matthias Weiß
Der ausgebildete Diakon ist seit 1992 bei der Offenen Arbeit und seitdem hauptamtlicher Mitarbeiter. Ihm ist in der Offenen Arbeit wichtig, dass sie Raum bietet, um sich zu engagieren, sich auszuprobieren oder einfach nur um da zu sein und um Gemeinschaft zu erleben.

 

Glossar
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“Global 2000”: ist eine Umweltstudie, welche grundlegende Entwicklungen der Umwelt und ihre Auswirkungen bis ins Jahr 2000 untersuchte und 1977 vom ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter in Auftrag gegeben wurde. Auch wenn einige Prämissen dieser Studie nicht eingetreten sind, gilt es noch immer als wichtiges Werk. In der DDR war es verboten, heute ist es kostenlos als PDF herunterzuladen.

Egon Krenz: ist ehemaliger SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschland) Politiker. In seiner Rede zum Amtsantritt als Generalsekretär und Nachfolger von Erich Honecker, prägte er das Wort Wende für die politische Endphase der Politik in der DDR.

Allianz für Deutschland: War ein Wahlbündnis der rechten Mitte, welches sich einmalig 1990 zur Wahl stellte, bestehend aus der CDU-Ost, Deutsche Soziale Union (DSU) und Demokratischer Aufbruch (DA). Das Wahlbündnis trat für eine schnelle deutsche Wiedervereinigung ein.

Schwerter zu Pflugscharen: ist eine Friedensbewegung der DDR, welche sich vor allem für Rüstungskonversion und Abrüstung einsetzte.
Ursprünglich entstammt dieses Teil-Zitat aus der Bibel. Alle Waffen werden überflüssig sein, deswegen werden die Menschen “…ihre Schwerter zu Pflugscharen schlagen und ihre Speere zu Winzermessern.”

Inoffizieller Mitarbeiter (IM), war in der DDR die Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) interne Bezeichnung für eine Person, die dem MfS verdeckt Informationen lieferte oder auf Ereignisse oder Personen steuernd Einfluss nahm, ohne formal für diese Behörde zu arbeiten.

Rote Hilfe e. V. ist ein Verein zur Unterstützung linker Aktivisten, die im Rahmen ihrer politischen Aktivität mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind.