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Türen öffnen für Menschen mit Behinderung

denkhausbremen im Gespräch mit Ottmar Miles-Paul (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben / ehemaliger Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen in Rheinland-Pfalz), Hans Horn (Geschäftsführer Werkstatt Bremen / im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V.) sowie Ronald Pawlik (Vorsitzender des Werkstattrats der Werkstatt Bremen)

denkhausbremen: Wie nehmen Sie die Behindertenrechtsbewegung wahr, Herr Horn und Herr Pawlik?

Hans Horn: Für mich ist das Wörtchen “für” in dem altmodischen Begriff „Werkstatt für Menschen mit Behinderung“ ganz entscheidend. Deshalb ist es wichtig, dass gerade auch in den Werkstätten Mitbestimmung und Mitwirkung ernst genommen wird. Mit den Vertreter*innen der Behindertenrechtsbewegung wird es leider immer schwerer in einen guten Dialog zu kommen, deshalb freue ich mich auch sehr über dieses Gespräch. Vielleicht ist das aber auch eine Veränderung unserer Gesellschaft, dass man ständig polarisieren muss, um gehört zu werden. Für Interessenvertreter*innen ist es vermutlich aber auch sehr schwer für alle Menschen mit Behinderung zu sprechen, da die Möglichkeit der Teilhabe abhängig von Art und Schwere der Behinderung doch sehr individuell ist. Aber auch die Werkstätten sind kein homogenes Feld. Deshalb ist es auch unmöglich, für „alle“ Werkstätten zu sprechen. Ich persönlich habe es sehr geschätzt, dass bei der Entstehung des Bundesteilhabegesetzes Menschen mit Behinderung intensiv miteinbezogen wurden.

Ronald Pawlik: Zumindestens in unserer Werkstatt wird das Thema Mitbestimmung ganz groß geschrieben. Wir hatten sogar schon einen Frauenbeauftragte, bevor das Bundesteilhabegesetz in 2017 dies vorschrieb. Es spielt eine große Rolle, auf Augenhöhe miteinander zu sein. Viele Beschäftige sagen immer, wir wollen nicht beschützt werden, sondern unterstützt werden. Man muss insgesamt offener werden für die Werkstatträte bundesweit und ihnen mehr zutrauen.

Uns wie ist Ihr Blick auf die Werkstätten, Herr Miles-Paul?

Ottmar Miles-Paul: Das Thema Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) begleite ich seit 30 Jahren. Als Landesbehindertenbeauftragter von Rheinland-Pfalz habe ich viele Werkstätten besucht, hab auch früh mit den Alternativen wie Budget für Arbeit zu tun gehabt. Daraus hat sich für mich ein differenzierter Blick ergeben. An einigen Stellen muss man die Diskussion um die Werkstätten pauschaler führen, weil es auch mit dem System zu tun hat, auf der anderen Seite ist es sehr individuell, es geht darum Menschen Türen zu öffnen. Am Ende zählen für mich die Menschen, die was verändern wollen.

Mein Eindruck ist, dass die Veränderung auch langsam bei den Werkstätten ankommt. Das mag auch am Druck der Presse liegen: Es geht um faire Löhne und die Debatte um Inklusion, die nicht zuletzt auf die UN-Behindertenrechtskonvention zurückgeht. Häufig scheitert es jedoch immer noch an Eigeninteressen: Als Werkstatt gebe ich ungern jemanden ab, der viel Leistung bringt und auch auf dem Arbeitsmarkt eine Chance hätte. Dazu kommt die fehlende Inklusion sowie der sehr geringe Lohn, der die Menschen dauerhaft in der Grundsicherung hält. Das stimmt mit meinem Gerechtigkeitssystem nicht überein. Ich erlebe daher oft, dass behinderte Menschen in Werkstätten nicht zufrieden sind.

Herr Pawlik, Sie möchten was entgegnen…

Ronald Pawlik: Auch aus meiner Sicht hat die Politik hier bis vor einigen Jahren geschlafen. Jetzt versucht man mit Presse und aller brachialer Gewalt dagegen zu wirken. Ich glaube, das ist der falsche Weg. “Werkstätten weg” ist definitiv keine Lösung. Eine echte Inklusion wird es in unserer Gesellschaft nicht geben, da müssen wir uns nichts vormachen.

Ottmar Miles-Paul: Da habe ich einen klaren Unterschied. Wenn ich mit der Haltung lebe, akzeptiere ich Umstände, die in anderen Teilen der Welt bereits überwunden sind, wie ich selbst gesehen habe. Wir sollten deshalb jetzt anfangen, wo es geht schon mal die Türen aufzumachen.

Was spricht eigentlich dagegen, dass der Mindestlohn in den Werkstätten ausgezahlt wird?

Hans Horn: Meine Aufgabe ist es, unter den gegebenen Bedingungen Verbesserungen zu erreichen. Es gibt allerdings Grenzen, die wir nur gemeinsam über den Gesetzgeber verändern können. Ich bin absolut der Meinung, dass die Lohnsituation in den Werkstätten nicht in Ordnung ist. Der Gesetzgeber gibt jedoch genau vor, wie das Arbeitsentgelt entstehen muss: Das darf ausschließlich aus den Arbeitserlösen der Werkstatt bezahlt werden. Dazu muss man wissen, dass auch Menschen mit Behinderung, die nur eine sehr geringe verwertbare Arbeitsleistung erbringen können, einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der WfbM haben. Deshalb ist es unter den aktuellen Rahmenbedingungen für eine Werkstätte ohne umfassende finanzielle Unterstützung nicht möglich, den Mindestlohn zu erwirtschaften. Wenn wir also den Mindestlohn zahlen wollen, braucht es neue gesetzliche Vorgaben und entsprechende Mittel.

Ottmar Miles-Paul: Es wäre nur gerecht, hier den Mindestlohn zu zahlen. Mir geht es aber auch um den Inklusionsaspekt. Daher haben wir mit dem Bundesteilhabegesetz hart für das Budget für Arbeit gekämpft. Leider wird dieses Instrument, das die Menschen für den ersten  ersten Arbeitsmarkt beflügeln soll, von den Werkstätten viel zu selten angeboten. Dies betrifft aus meiner Sicht besonders die ausgelagerten Arbeitsplätze. Dort sind die Menschen häufig länger beschäftigt, es scheint also oft zu funktionieren. Allerdings bekommen die Beschäftigten dort selten ein versicherungspflichtiges Anstellungsverhältnis. Bei 20.000 dieser Arbeitsverhältnisse bundesweit, wird erst bei 1.000-2.000 Menschen das Budget für Arbeit zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt genutzt. Warum?

Wäre das aus Ihrer Sicht ein Reformpfad, Herr Pawlik?

Ronald Pawlik: Das Thema Budget für Arbeit ist an sich eine schöne Sache. Wir können jedoch einen Beschäftigten, der auf einem Außenarbeitsplatz ist, nicht dazu zwingen. Viele sehnen sich nach dem geschützten Rahmen der Werkstatt. Außerdem ist das Budget für Arbeit auch nicht unendlich. Da gibt es Beschäftigte, die Angst haben, was passiert mit mir, wenn das Budget für Arbeit nicht mehr gezahlt wird?

Ottmar Miles-Paul: Hier sehe ich Informationsbedarf bei der Werkstatträten. Es gibt die Möglichkeit, dass man wieder in die Werkstatt zurück kann…

Ronald Pawlik: Wenn Du einmal auf dem ersten Arbeitsmarkt einen Rückfall erlebt hast und wieder in die Werkstatt zurück musst, dann ist das eine bittere Pille.

Herr Horn, halten Sie den Weg bei den Außenarbeitsplätzen über Budget für Arbeit für eine Möglichkeit, die Menschen dort in der ersten Arbeitsmarkt zu bringen?

Hans Horn: Das Budget für Arbeit ist bezogen auf die Teilhabe am Arbeitsleben sicher der innovativste Teil des Bundesteilhabegesetzes. Ich stimme Herrn Miles-Paul zu, dass in dem Bereich noch viel zu wenig entstanden ist. Ein Problem ist, dass es für Unternehmen noch immer mit deutlich weniger Risiko verbunden ist, einen ausgelagerten Arbeitsplatz zu nutzen, anstatt den Menschen mit allen Konsequenzen in ein Arbeitsverhältnis zu übernehmen.

Aus Unternehmenssicht verständlich, aber müsste das nicht ordnungspolitisch anders organisiert werden?

Hans Horn: Wir leben ich einer freien Marktwirtschaft, die nur sehr bedingt ordnungspolitische Eingriffe vorsieht. Aber ich gebe Ihnen Recht: auch die Werkstätten könnten sich in diesem Bereich noch stärker engagieren.

Ottmar Miles-Paul: Selbst aus dem Bundesarbeitsministerium gibt es Signale, dass man die Beschäftigten in den ausgelagerten Arbeitsplätzen letztendlich anständig bezahlen soll. Die große Revolution werden wir eh nicht erreichen. Aber wir wollen den Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten möchten, die Türen öffnen.

Wenn Sie mal die Sachzwänge bei Seite lassen, was würden Sie gerne umsetzen, Herr Horn?

Hans Horn: Ich würde mir wünschen, jedem Menschen, der zu uns kommt, den beruflichen Weg ermöglichen zu können, den er sich wünscht. Wenn jemand sagt, ich möchte auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sein, dann möchte ich ihn darin bestmöglich unterstützen. Und wenn jemand sagt, ich möchte einen geschützten Rahmen, dann möchte ich ihm auch das anbieten können, ohne dafür schief angeschaut zu werden. Das alles zu einem Arbeitsentgelt, von dem man leben kann. Das wäre für mich dann wirklich Inklusion: echte Wahlmöglichkeiten für jeden schaffen.

Was muss aus Ihrer Sicht jetzt in Bewegung gebracht werden, Herr Miles-Paul?

Ottmar Miles-Paul: Wir müssen eindeutig mehr Budgets für Arbeit bekommen, verstärkt Inklusionsbetriebe schaffen und vor allem faire Löhne bezahlen. Wir möchten doch niemand aus der Werkstatt hinausprügeln, niemand löst die Werkstätten im Moment auf. Langfristig sollten Werkstätten oder Teile davon zu Inklusionbetrieben umgewandelt werden. Für die Werkstatträte würde ich mir noch mehr Empowerment-Schulungen wünschen. Außerdem wäre es gut, wenn die Werkstätten verstärkt das Gespräch mit der Behindertenrechtsbewegung suchen. Bremen war immer einer gutes Experimentierfeld, um Dinge voran zu treiben. Als Gesprächspartner in Bremen würde ich den ehemaligen Sozialstaatsrat Horst Freye vorschlagen, ein Urgestein der Selbstbestimmt leben Bewegung.

Was wäre Ihr Wunsch für die Zukunft, Herr Pawlik?

Ronald Pawlik: Das sind zwei Themen – Respekt und soziales Verhalten der Firmen.

Grundsätzlicher gedacht, wie können behinderte Menschen adäquat an den relevanten Zukunftsdiskussionen beteiligt werden?

Hans Horn: In unserer Gesellschaft benötigt man für die Teilhabe an der politischen Willensbildung ganz bestimmte Kompetenzen. Man muss kommunizieren können und benötigt entsprechende kognitive Fähigkeiten. Ich bedauere, dass Menschen mit starken Beeinträchtigungen in diesem Bereich wenig Möglichkeiten haben sich zu beteiligen. Wir sollten allen Menschen mit Behinderungen die Chance verschaffen, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen.

Ronald Pawlik: Es darf keine Rolle spielen, welchen Grad der Behinderung ein Mensch hat: Ich finde es wichtig, dass man den Menschen einfach wahrnimmt und annimmt, wie er ist. Es zählt der individuelle Mensch mit seinen Wünschen und Bedürfnissen.

Ottmar Miles-Paul: Wichtig ist, dass die entsprechenden Betroffenengruppen auch bei politischen Entscheidungen vertreten sind. Hier sehe ich noch sehr viel Bedarf. Das hat auch mit Empowerment zu tun, d.h. zu wissen, wie bringe ich mich in solche Gremien ein. Da arbeiten wir dran. Allerdings haben wir in Deutschland im Hinblick auf Partizipationsprozesse noch eine ganze Strecke zu gehen.