Wolfgang Geißler ist Politikwissenschaftler und Sprecher der Initiative Einfach Einsteigen. Dort kümmert er sich um die Öffentlichkeitsarbeit und die Vernetzung mit NGOs und Fachleuten aus Politik und Wissenschaft. (Foto: Ana Rodríguez)
denkhausbremen: Herr Geißler, mit Ihrer Initiative „Einfach Einsteigen“ plädieren Sie für einen ticketlosen Nahverkehr in Bremen. Warum?
Wolfgang Geißler: Es gibt viele gute Gründe für einen ÖPNV ohne Fahrscheine in Bremen. Wenn Menschen vom Auto auf den Nahverkehr umsteigen verringern sich die CO2-Emissionen. Mit weniger Autos würde zudem viel öffentlicher Raum wieder frei, der im Moment für Parkplätze genutzt wird. Und wir sind uns sicher, dass auch die Wirtschaft in Bremen von einem stärker ausgebauten und ticketlosen Nahverkehr profitieren würde. Aktuell stehen Arbeitnehmer*innen morgens lange im Stau und kommen gefrustet zur Arbeit. Das ist schlecht für die Produktivität, Handwerksbetriebe und Logistik brauchen ewig, um von A nach B zu kommen.
Der Einzelhandel befürchtet Umsatzverluste, wenn die Menschen nicht mehr mit dem Auto bis nah an die Ladentür fahren können.
Im Gegenteil, auch für den Einzelhandel wäre der ticketlose Nahverkehr ein Teil der Rettung. Gerade durch Corona wird zurzeit intensiv darüber diskutiert, wie man die Innenstadt gegen den übermächtigen Onlinehandel stärken kann. Die Obernstraße würde doch deutlich an Attraktivität gewinnen, wenn man sich einfach ohne Fahrschein in die Bahn setzen und in die City fahren könnte – wo es sich ohne Autoverkehr noch dazu viel gemütlicher flanieren lässt. Wir nennen das BSAG Prime statt Amazon Prime.
Wie genau sehen Ihre Pläne denn aus?
Zunächst sollen die Bremische Bürgerschaft und der Senat den Beschluss fassen, einen ticketlosen ÖPNV in Bremen einzuführen. Dann müssen zusätzliche Fahrzeuge angeschafft, zusätzliches Personal eingestellt und neue Strecken geplant werden, um deutlich mehr Fahrgäste transportieren zu können. Wir rechnen mit drei bis fünf Jahren Vorlauf, um diese notwendigen Vorarbeiten zu leisten.
Nach dieser Vorlaufphase wird eine Umlage erhoben, die zur Hälfte von allen Bremerinnen und Bremern sowie allen Leuten bezahlt wird, die nach Bremen reinpendeln – auch Gäste zahlen einen kleinen Beitrag. Die zweite Hälfte wird von der Bremischen Wirtschaft durch eine Gewinnumlage beigesteuert. Damit kommt genug Geld zusammen, um einen massiv ausgebauten Nahverkehr in Bremen ticketlos zu betreiben.
Denn aktuell wird der ÖPNV-Betrieb in Bremen mit ungefähr 75 Millionen Euro aus dem Bremischen Haushalt quersubventioniert. Diese Summe wäre durch die Umlage dann frei, um den ÖPVN massiv auszubauen. Zusätzlich gibt es vom Bund und von der EU Zuschüsse zu Ausbauprojekten, mit denen sich die 75 Millionen Euro nochmal auf eine deutlich höhere Summe hebeln lassen.
Wie hoch wäre denn diese Umlage für die Bremerinnen und Bremer? Und wenn Sie an Geringverdiener denken, wäre eine Finanzierung eines ticketlosen ÖPNV über Steuermittel nicht gerechter, da die Leute nach Einkommen besteuert werden?
Zunächst mal hat unsere Idee auch positive soziale Effekte. Aktuell ist der ÖPNV besonders dort schlecht ausgebaut, wo eher Menschen mit kleinem Geldbeutel leben. Wenn ich z.B. von Osterholz-Tenever zum Hauptbahnhof fahren möchte, dann brauche ich mit der Straßenbahn eine geschlagene Dreiviertelstunde – eine ziemlich schlechte Anbindung. Der Status Quo ist alles andere als gerecht. Mit einem verbesserten ÖPNV wollen wir auch die soziale Teilhabe in der Stadt fördern.
Der Betrag für die Umlage, den wir ausgerechnet haben, liegt bei knapp 20 Euro im Monat für alle volljährigen Bremerinnen und Bremer – bis zum Alter von 18 Jahren ist man von der Umlage befreit. Für diejenigen, deren Einkommen unterhalb der Pfändungsgrenze liegt (derzeit 1.140 Euro Monatseinkommen für einen Singlehaushalt), soll es einen Sozialtarif geben, den wir zunächst mal mit 10 Euro angesetzt haben. Im Vergleich zu den aktuell fast 40 Euro für das Sozialticket ist das eine deutliche Verbesserung. Wir glauben, dass wir damit ein Konzept entwickelt haben, dass nahezu im gesamten politischen Spektrum anschlussfähig ist.
Ihr ermäßigtes Ticket ist also günstiger, weil eben auch diejenigen eine Umlage zahlen, die gar nicht Straßenbahn oder Bus fahren.
Grundsätzlich sind die Umlage und der ermäßigte Preis deutlich geringer als die aktuellen Nutzungskosten, weil eben alle zahlen. Das hat aber auch Vorteile für alle. Weniger Abgase, weniger CO2 Ausstoß, weniger Unfälle, weniger Lärm, weniger Stau, mehr soziale Teilhabe, mehr Grünflächen, mehr Platz für Rad- und Fußwege und ich muss mir keine Gedanken mehr über Tickets und Kleingeld machen. Das ist das Einfach-Einsteigen-Gefühl, das der Stadt ein ganz neues Flair gibt. Von unserem Konzept profitieren also alle Menschen in Bremen, auch wenn sie nicht mit den Öffis fahren.
Wenn es so einfach ist – warum wurde der ticketlose Nahverkehr nicht längst eingeführt?
Tatsächlich wurde in der Vergangenheit immer mal wieder ein kostenloser oder fahrscheinfreier Nahverkehr gefordert. Dass daraus nie etwas geworden ist liegt auch daran, dann es einfach keine realistisch umsetzbaren Konzepte gab. Wir haben nun ein Konzept vorgelegt, das in Bremen umgesetzt werden kann, ganz ohne die Hilfe des Bundes. Denn Bremen hat als Bundesland die Kompetenz, eine solche zweckgebundene Umlage zu erheben – anders als im Bereich der Steuern. Zumal die zusätzlichen Einnahmen aus Steuererhöhungen ins allgemeine Budget und ggf. zum Teil auch an den Bund fließen würden.
Wir haben mit „Einfach Einsteigen“ ein Konzept gewählt, bei dem von allen Menschen und Unternehmen in Bremen ein Beitrag gezahlt wird. Wir glauben, dass man diese Idee etablieren kann: „Wir bezahlen gemeinsam für unseren Nahverkehr“.
Sie sind optimistisch.
Ganz klar ist, dass wir die Menschen zum Umstieg bewegen wollen. Untersuchungen zum Mobilitätsverhalten zeigen: Menschen nutzen die Infrastruktur, die gut ist. Wir haben in Deutschland 50, 60 Jahre lang die Autoinfrastruktur ausgebaut und den ÖPNV brachliegen lassen. Welch Wunder, alle fahren Auto!
Die Leute werden umsteigen, sobald es mehr Bahnen gibt. Die Distanzen bis zur nächsten Haltestelle müssen kürzer, die Takte der Straßenbahnen und Busse enger werden. Auch die Takte am Abend müssen verbessert werden, damit man nicht irgendwann irgendwo in der Stadt sitzen bleibt. Und natürlich muss auch die Aufenthaltsqualität in den Fahrzeugen verbessert werden. Die Fahrgäste sollen den ÖPNV nicht als notwendiges Übel sehen, um von A nach B zu kommen, sondern sie sollen sich wohl fühlen und einfach gerne Straßenbahn fahren.
Lassen sich Umsteigeeffekte denn allein dadurch zu erreichen, dass die Taktung erhöht, die Entfernung zur Haltestelle verringert und die Aufenthaltsqualität verbessert wird? Manche Menschen sind doch einfach gerne in ihrem abgeschlossenen eigenen Auto unterwegs, das vor der Haustür steht, und hören während der Fahrt laut Radio. Der ticketlose Nahverkehr in der estnischen Hauptstadt Tallinn hat die Menschen dort nur begrenzt zum Umsteigen gebracht. Wie wollen Sie gewährleisten, dass der ticketlose Nahverkehr tatsächlich zu weniger Autos in Bremen führt?
Es ist richtig, in Tallinn sind relativ wenige Leute umgestiegen. Warum? Weil einerseits schon vorher relativ viele Leute mit dem Nahverkehr unterwegs waren und andererseits die Intention dort überhaupt nicht war, Leute zum Umstieg zu bewegen.
Was waren dann die Beweggründe?
In Tallin ging es um eine Wohltat für die Bürger*innen, die eher wahltaktische Gründe hatte. Um hier bei uns den Umstieg vom Auto zu gewährleisten müssen jedoch begleitende Maßnahmen ergriffen werden. Die Verkehrswissenschaft spricht von Push und Pull. Es wird ein attraktives Angebot geschaffen, gleichzeitig werden auch leichte Schubser verteilt. Zu diesen gehört die flächendeckende Parkraumbewirtschaftung und ggf. auch der Rückbau von Straßen. Natürlich muss der Umweltverbund insgesamt gestärkt werden. Wir sind dafür, dass mit weiteren Mitteln auch der Rad- und Fußverkehrs gefördert wird.
Gibt es erfolgreiche Beispiele aus anderen Städten?
Dünkirchen, eine Stadt in Nordfrankreich, hat in den letzten Jahren massiv seine Verkehrsinfrastruktur umgebaut und den ticketlosen Nahverkehr eingeführt. Die Stadt hat ca. 100.000, die Region, für die es gilt, 200.000 Einwohner*innen. Schade ist, dass die wissenschaftliche Begleitung solcher Projekte oft recht dürftig ist. Dünkirchen hat einen leider nur auf Französisch verfügbaren Jahresbericht vorgelegt. Dort hat es Umstiegseffekte gegeben – aber ein Jahr ist ein unglaublich kurzer Zeitraum zur Betrachtung.
Menschen sind im Prinzip mit einem bestimmten Mobilitätsverhalten sozialisiert und häufig ändert sich dies nur im Zuge von Umbrüchen im Alltag. Das kann zum Beispiel ein Umzug in eine neue Stadt sein, eine Änderung des Berufs, oder der Umzug in eine neue Wohnung, woraufhin man sich neu orientiert und neue Wege und Routinen entwickelt. Wenn ich bestimmte Wege habe und aufs Auto eingeschliffen bin, ändert sich das nur sehr langsam. Deshalb muss man auch keine Angst haben, dass es sofort einen krassen Run auf den Nahverkehr gibt, weil ein Umstieg nicht von heute auf morgen passiert. Aber man muss das halt mal irgendwann ernsthaft anschieben. Bisher bauen wir hier und da mal eine neue Straßenbahnlinie. Die Richtung, in die Bremen aktuell geht, ist gut, aber die Geschwindigkeit ist viel zu langsam. Es stehen auch nicht die Mittel zur Verfügung, um wirklich groß zu denken.
Der ÖPNV kommt relativ schnell an die Grenzen der Auslastung. Die Taktung und die Engmaschigkeit der Haltestellen und Linien kann man sicherlich noch ein Stück erhöhen. Aber vor Corona waren die Busse und Bahnen ohnehin schon voll, zumindest zu Stoßzeiten.
Wir begrüßen jede Maßnahme, um den Fuß- und Radverkehr zu fördern. Das Schöne ist, dass die dafür benötigten finanziellen Mittel deutlich geringer sind als beim ÖPNV. Der Ausbau einer Straßenbahnlinie kostet schnell mal 30 Millionen Euro.
Mit 30 Millionen Euro ließen sich schon einige Radwege bauen oder instand setzen.
Genau. Im Bürgerantrag „Platz Da“ steht zum Beispiel, dass die Einnahmen aus einer flächendeckenden Parkraumbewirtschaftung in den Ausbau von Fuß- und Radverkehr fließen sollen. Wir stehen da voll dahinter. Allerdings lässt sich auch nicht alles über den Fuß- und Radverkehr abdecken. Aus den äußeren Stadtteilen ist es für viele Menschen einfach zu weit, um mit dem Rad in die Innenstadt zu fahren – und bei Regen und Kälte möchten sich auch nicht alle aufs Rad setzen.
Wie sieht es mit der politischen Umsetzung aus? Stößt Ihre Initiative auf Gegenliebe?
Alle Leute, die von der Fachseite kommen, sind Fans – ich glaube, da lehne ich mich nicht zu weit aus dem Fenster. Weil die Fachleute in dem Bereich sehen, dass der ÖPNV chronisch unterfinanziert ist. Wenn man einen Umstieg haben möchte, muss man einfach Geld in die Hand nehmen. In den Haushaltsdebatten sind die Mittel hart umkämpft, gerade in einem verschuldeten Land wie Bremen. Entsprechend sind die Fachleute große Fans unserer neuen Finanzierungsgrundlage für den ÖPNV, mit der sich endlich mal große Schritte machen lassen.
Auch auf politischer Ebene bekommen wir viel Zuspruch. Viele Leute sehen, dass unser Konzept tatsächlich funktioniert und nicht nur heiße Luft ist. In ihrer Koalitionsvereinbarung hat die aktuelle Landesregierung einen Prüfauftrag verschiedener Tarifmodelle vereinbart, eines davon ist unser Modell für den ticketlosen Nahverkehr. Dieser Prüfauftrag wird wohl Ende des Jahres vorliegen. Wir haben die rechtliche Einschätzung, dass unser Modell funktioniert, aber die genauen Umsetzungsdetails müssen intensiver geprüft werden.
Worum geht es dabei?
Es geht beispielsweise darum, wie die notwendigen Paragraphen formuliert sein müssen oder wie es mit bestimmten Aspekten der Vorfinanzierung aussieht. Die ließe sich wohl im Rahmen des Haushaltes stemmen, aber man muss eben klären, wie. Das sind Dinge, die die Politik wissen will, bevor sie etwas entscheidet. Es geht um ein Pilotprojekt. Noch niemand vorher in Deutschland hat das gemacht. Deshalb hat die Politik eine gewisse Sorge, Fehler zu machen und damit auf die Nase zu fallen.
Die Politiker*innen müssten sich trauen, von (fast) jeder Bremerin und jedem Bremer von jetzt an jeden Monat einen Zwannie zu verlangen. Dafür, dass die Fachleute jauchzen und neue Mittel für einen verbesserten ÖPNV zur Verfügung haben. Die nächste Wahl kommt bestimmt.
Wir waren schon immer der Überzeugung, dass die Menschen das in der Summe gut finden. Um das zu prüfen haben wir durch ein externes Institut eine repräsentative Umfrage unter tausend Menschen in Bremen durchführen lassen. Dort wurde das Konzept vorgestellt und dann gefragt, was die Leute davon halten und ob sie bereit wären, 20 € im Monat zu bezahlen, um einen deutlich verbesserten Nahverkehr ticketlos nutzen zu können. Zwei Drittel aller Bremer*innen haben mit „Ja“ geantwortet – selbst die Anhänger der CDU finden das zu über 50 % gut.
Es kostet ja erstmal nichts, ja zu sagen.
Nein, aber unsere Initiative trifft den Zeitgeist. Die meisten Menschen wollen Veränderung, eine Verkehrswende und eine modernere Stadt. Natürlich wird es Widerstände geben, es wird eine laute Minderheit geben, die „Zwangsabgabe“ schreit. Und es wird auch Klagen geben. Das muss man aushalten und sich politisch dagegenstellen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Parteien, die unser Konzept umsetzen, davon profitieren werden. Sie können so zeigen, dass sie handlungsfähig sind, aktiv Dinge vorantreiben und die Stadt nach vorne bringen.
Im Übrigen ist die Ticketlosigkeit nur ein Baustein neben dem massiven Ausbau und der Verbesserung des Nahverkehrs – die ebenso Kernelemente sind, um die Verkehrswende zu bewerkstelligen. Natürlich lässt sich der ÖPNV mit den begrenzten Räumen einer Bremer Innenstadt nicht unendlich ausweiten. Interessant wäre es daher, perspektivisch über den Bau von Ringlinien nachzudenken…
So wie in Berlin?
Genau. Damit müsste nicht mehr alles über die Innenstadt laufen. Und wenn man wirklich ein großes Rad drehen und sich eine autofreie Stadt vorstellen möchte, dann müsste man sogar über eine U-Bahn nachdenken. Pläne dazu gab es in den 70ern, sind dann aber verworfen worden. Das wäre ein Mammutprojekt, aber wenn wir wirklich etwas verändern wollen müssen wir auch mal groß denken.
Bleiben wir beim ersten Schritt: Wann wird der ticketlose Nahverkehr in Bremen Realität?
Der Beschluss kommt 2021 und los geht es dann zwischen 2024 und 2026.