Soziale Gerechtigkeit, Zukunftslabore allgemein, Zukunftslabore von unten

Katja Kipping und Michael Stiefel im Gespräch: Räume zum Austausch schaffen

denkhausbremen im Trialog mit Katja Kipping (Berliner Senatorin für Arbeit, Soziales und Integration, langjährige Vorsitzende Die Linke) und Michael Stiefel (Vorstand Armutsnetzwerk).

denkhausbremen: Wie beurteilen Sie die Arbeit des Armutsnetzwerkes und anderer Basisinitiativen?

Katja Kipping: Seitdem ich auf Bundesebene aktiv bin, habe ich immer eng mit den Hartz 4-Protesten und Initiativen wie dem Armutsnetzwerk zusammengearbeitet. Aus meiner Sicht sind Menschen, die von Hartz 4 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche leben müssen, sind die Expert:innen in der Praxis. Dieses Praxiswissen ist unersetzbar. Auf meine Initiative hin wurde durch unsere Bundestagsfraktion die Kontaktstelle soziale Bewegungen ins Leben gerufen, die gezielt Aktive aus den Basisbewegungen eingeladen hat. Leider musste ich beobachten, dass die bundesweite Erwerbslosenorganisierung stark zurückgegangen ist. Man hat halt schon gemerkt, dass Hartz 4 Spuren auf den Seelen der Menschen hinterlässt. Chapeau an alle, die trotzdem durchgehalten haben.

Darüber hinaus stand ich regelmäßig mit Kaffee in meiner Heimatstadt vorm Jobcenter, auch um konkret zu erfahren, was die Menschen gerade bewegt.

Viel Lob für Euch, Michael Stiefel. Wie beurteilst Du die Politik der Linken, ist die Bundestagsfraktion für Euch erreichbar?

Michael Stiefel: Zu den Linken gab es immer mal wieder Kontakte und die Bereitschaft, sich mit Initiativen ins Gespräch zu begegeben – gerade bei den Anhörungen rund um das Hartz 4-Thema oder um die Grundsicherung. Weiterhin gab es Kontakt bei der Anhörung zum Wohnungslosen-Berichterstattungs-Gesetz im Sozialausschuss. Hier hatten wir gefordert, dass auch die Qualität der Unterkünfte und wohnungslose Menschen mit Kindern berücksichtigt werden.

Bei unserem Engagement kennen wir keine politische Farbe. Wenn man Veränderung möchte, ist das letzte was wichtig ist, welches Etikett oben drauf steht.

Hast Du denn den Eindruck, dass Ihr Zugang zur Politik habt oder ist der eher Funktionsträger:innen von den großen Sozialverbänden vorbehalten? Gibt es genügend Räume, um zusammen zu kommen?

Michael Stiefel: Es gibt nicht genug Räume. Diese werden weder von der Politik noch von den Verbänden eingerichtet; jeden Türspalt, den man finden kann, muss man suchen und bearbeiten. Nur so lässt sich der unglaublich große Ressourcenunterschied ausgleichen, der zu anderen Lobbygruppen besteht. Daher engagieren wir uns in verschiedenen Verbänden und Initiativen sowie in der Nationale Armutskonferenz.

Katja Kipping: Institutionellen Räume zum Austausch mit Hartz 4- und Armutsbetroffenen müssen geschaffen werden, wobei die verschiedenen politischen Akteure, Regierung und Opposition, in die Pflicht genommen werden müssen. Deshalb versuchen wir als Fraktion bei Anhörungen nicht nur eine:n Sozialverbandsvertreter:in, sondern auch unabhängige Basisinitiativen einzuladen.

Auch bei den großen Sozialverbänden habe ich den Eindruck, dass sie verstärkt die Erfahrungen von Armut betroffenen Menschen im Sinne von Eigenermächtigung einbinden.

Im Gegensatz dazu hat das Arbeitsministerium darauf verzichtet, armutsbetroffene Menschen bei der Erstellung von Armuts-und Reichtumsberichten anzuhören.

Wie sieht es denn tatsächlich in der Realität aus, wenn die Linke in Politikverantwortung kommt?

Katja Kipping: Die ganz entscheidenden Maßnahmen, um Armut zu bekämpfen, kann man nur auf der Bundesebene in die Wege leiten. Deswegen kämpfe ich seit Jahren dafür, dass wir auf Bundesebene soziale Mehrheiten haben.

Konkret haben die Linken auf Landesebene einiges erreicht: Die Bremer Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard hat mit einer Impfkampagne auch benachteiligte Stadtviertel einbinden können.Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach hat den Masterplan gegen Wohnungslosigkeit erstellt und macht Druck, dass Wohnungsunternehmen ein bestimmtes Kontingent für “Housing First” zur Verfügung stellen.

Michael Stiefel: Das stimmt – durch die Initiative einzelner Politike:innen wird ein Feld auch mal gegen den Strich gebürstet. Elke Breitenbach hat in Berlin viel bewegt. Ich würde nicht ganz zustimmen, dass die wichtigsten Dinge immer aus der Bundesebene kommen müssen. Es hat aus den Ländern viele erfolgreiche Aktivitäten gegeben, z.B. im Bereich der Kindergrundsicherung.

Ich würde gerne auf die Corona-Krise hinweisen: Diese hat wie ein Brennglas die Defizite der Wohnungslosenhilfe aufgezeigt, die sich als nicht krisenfest herausgestellt hat. Man hat z.B. die Wasserspender auf den Straßen von Berlin wegen Infektionsgefahr abgestellt. Außerdem hat der Lockdown Wohnungslose, von Armut Betroffene sowie arme Familien, die auf beengtem Wohnraum leben müssen, besonders hart getroffen, sie waren im “Lock Out”. Dazu kam noch die fehlende Erreichbarkeit der Jobcenter.

Was ist Ihr Eindruck von der Corona-Situation, Frau Kipping?

Katja Kipping: Von der Corona-Krise sind zwar alle betroffen, aber sie schlägt mit einer soviel größeren Brutalität bei den Ärmeren zu. Corona zeigt die Leer- und Schwachstellen unserer Sozialsysteme. Daher haben wir für alle, die Sozialleistungen beziehen, einen Pandemiezuschlag gefordert. Auch die Schließung der Tafeln und die Probleme in der Wohnungslosenhilfe waren hoch problematisch.

Sie wollten noch was zur Kindergrundsicherung anmerken…

Katja Kipping: Ich kämpfe seit rund 15 Jahren für die Kindergrundsicherung. Bisher haben Wohlhabende mehr davon, wenn das Kindergeld erhöht wird. Kinder von Hartz 4-Beziehern sehen gar nichts von der Erhöhung, da es sofort angerechnet wird. Das ist sozial ungerecht. Das System umzudrehen und zu sagen, alle Kinder bekommen eine Kindergrundsicherung, wäre ein großer Fortschritt. SPD, Grüne und FDP haben das Modell nun auf dem Papier übernommen. Wir müssen jetzt jedoch aufpassen, dass das ganze kein Etikettenschwindel wird.

Was ist Deine Haltung dazu, Michael?

Michael Stiefel: Ich habe mich viele Jahre für Veränderung im Bereich der Familienpolitik engagiert. Ich halte aus meinen Erfahrungen im Bereich Kampf gegen Atomwaffen Veränderung für möglich, aber extrem schwierig und es dauert.

Aber zur Kindergrundsicherung: Der Gesetzgeber hat bei Hartz 4 nicht darüber nachgedacht, dass sich Kinder auch zeitweise beim anderen Elternteil aufhalten. Seit 2005 habe ich jahrelang Leute begleitet, dass sie während der Sommerferien etwas mehr Geld bekommen. Erst 2012 ist es dann, auch durch mein Engagement, zu einer Teillösung gekommen. Es ist ein grundsätzlicher Fehler, Kinder an einen Haushalt zuordnen zu wollen und die Sozialleistungen daran zu koppeln. Dieses Denkmuster wird mit der Kindergrundsicherung fortgesetzt, die ich aber im Grundsatz für richtig halte. Darüber hinaus gibt es aber noch viele Probleme, wenn Wohnungslose den Kontakt zu ihren Kindern pflegen wollen.

Wir würden gern auf das mögliche Spannungsverhältnis zwischen Basisgruppen und etablierten Playern zu sprechen kommen. Hat es Risiken, sich mit der großen Politik einzulassen?

Michael Stiefel: Dieses Thema diskutieren wir ständig. Wenn wir Einladungen zu Podien bekommen, bemühen wir uns direkt Betroffene in diese Rollen zu bringen. Es besteht aber immer eine hohe Gefahr, dass die Leute verbraucht und als Feigenblatt verwendet werden. Wenn wir mit einem Politiker:in oder Verband über ein Thema sprechen, fragen wir uns, gibt es daran Veränderungsmöglichkeit oder sind wir Dekoration. Was ist das konkrete Ansinnen des jenigen, der uns beteiligen möchte? Wenn mich eine Sicherheitsfirma anfragt, ob wir einen Workshop machen könnten, wie man Obdachlose aus Vorräumen mit Bankautomaten fernhalten kann, wird es doch sehr zynisch..

Anders herum, wenn Politiker:innen Räume für Armutsbetroffene öffnen, treffen sie manchmal auf Menschen, die sich stark mit ihrem Einzelschicksal beschäftigen, die aber keine strukturelle Perspektive mitgehen. Davor haben Politiker:innen verständlicher Weise Angst.

Wie sieht das für Sie aus, Frau Kipping, wenn Sie direkt mit Armutbetroffenen konfrontiert werden. Sehen Sie nicht die Gefahr der Anbiederung, wenn Sie mit Kaffee vor dem Jobcenter stehen? Muss man sich manchmal auch gegenseitig aushalten?

Katja Kipping: Ja klar muss man sich manchmal auch aushalten. Meine These ist nur ein Zusammenspiel aus institutionellen Wissen und Praxis, die auf entsprechende Mehrheiten treffen, tatsächlich Veränderungen bewirken. Wichtig ist, dass man kontinuierlich etwas macht, und nicht nur zu Wahlkampfzeiten.

In meine Sprechstunden kommen Menschen mit ihren Einzelschicksalen. Dadurch erhalte ich Einblick in Lebenswelten von Menschen mit Armutserfahrung, was den meisten Abgeordneten im Bundestag vorenthalten bleibt. Wichtig ist aber auch, dass man dabei die Grenzen als Oppositionspolitikerin klar benennt.

Zwei wichtige Punkte möchte ich noch anbringen: Es muss eine bundesweite Förderung von unabhängiger Arbeitslosenberatung geben und Betroffenen muss die Möglichkeit gegeben werden, dass sie nicht alleine “aufs Amt” gehen müssen.

Michael Stiefel: Kann ich alles unterstützen, gerade auch die Förderung der Beratung, wobei mir das nicht ausreichen würde, ich würde eine institutionelle Verankerung der Beteiligung von unabhängigen Erwerbslosen-Initiativen im Sozialgesetzbuch anstreben. Zusätzlich wäre Sozialanwaltschaft von “unten” und auch etwas Wettbewerb zu den vorhandenen Verbandsstrukturen sehr sinnvoll.

Ist der Weg über die Gerichte strategisch sinnvoll?

Katja Kipping: Es gab einige höchstrichterliche Entscheidungen, die enorm wichtig und hilfreich waren. Ein Beispiel war das Urteil des Bundesverfassungsgericht, das Sanktionen über 30 Prozent bei Hartz 4 für unzulässig erklärt hat. Hier haben Verbände und Basisinitiativen sehr gut zusammengespielt.

Michael Stiefel: Wir haben unzählige Leute begleitet, die sich auf den dornigen juristischen Weg gemacht haben. Viele gehen hier jedoch auch verloren: Sie müssen viele Dokumente bereit halten und Fristen beachten. Das kann Menschen in schwierigen Lebenssituationen überfordern.

Wichtig ist, dass möglichst in allen Strukturen Menschen mit Armutserfahrung einen Platz bekommen.