Rituraj Phukan im Gespräch mit denkhausbremen über die Art und Weise, wie indigene Gemeinschaften vom Klimawandel betroffen sind und wie ihre Kulturen und Bewirtschaftungspraktiken dazu beitragen könnten, zerstörte Natur wiederherzustellen und zu erhalten. Rituraj Phukan ist Umweltaktivist und Schriftsteller sowie Gründer und Vorsitzender des Indigenous People’s Climate Justice Forum. Er lebt in Assam (Indien).
denkhausbremen: Wenn Sie an Klimagerechtigkeit denken, was sind die ersten Gedanken, die Ihnen in den Sinn kommen?
Rituraj Phukan: Zunächst würde ich sagen, dass Klimagerechtigkeit entscheidend für soziale Gerechtigkeit ist. Indigene Völker und die Ärmsten der Armen gehören zu denjenigen, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind, sie haben aber keine Mittel, etwas dagegen zu tun. Dafür zu sorgen, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können, das macht Klimagerechtigkeit für mich aus.
Ich gehöre der indigenen Gemeinschaft der Tai-Ahom in Assam im östlichen Himalaya an. Für uns ist das Thema Klimagerechtigkeit sehr eng mit unserer Lebensweise verbunden. Wir sind zutiefst mit der Natur verbunden. Unser Leben, unsere Kulturen, unsere Ernährungssicherheit und Gesundheit – alles hängt direkt von der biologischen Vielfalt um uns herum ab. Teil von Klimagerechtigkeit sollte also sein, dafür zu sorgen, dass indigene Völker auf der ganzen Welt weiterhin Zugang zu diesen natürlichen Ressourcen haben.
Können Sie etwas dazu sagen, in welcher Weise die Tai-Ahom vom Klimawandel betroffen sind?
Der östliche Himalaya ist eine der Regionen der Welt, die sich am schnellsten erwärmen, mittlerweile schon um mindestens 1,3 Grad. Jüngsten Hochrechnungen zufolge könnten wir zum Jahr 2100 bis zu 95 Prozent der Gletscher verlieren. Der Brahmaputra ist ein Fluss, der zu mindestens 30 Prozent aus Schmelzwasser der Gletscher besteht. Kurzfristig werden wir also mehr Überschwemmungen, mehr Erosion und mehr Vertriebene erleben. Dies könnte zu weiteren Konflikten, dem Verlust von Lebensgrundlagen, landwirtschaftlichen Flächen und Ernährungssicherheit führen. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten sind die Niederschläge schon um 20 Prozent zurückgegangen. Wenn dann auch noch das  Gletscherwasser versiegt, könnte sich die Region von einem wasserreichen zu einem wasserarmen Gebiet entwickeln. Aus diesem Grund gehen Wissenschaftler*innen davon aus, dass die Brahmaputra-Region eines der Gebiete ist, in denen zukünftig Kriege um Wasser zu erwarten sind.
Die Tai-Ahom sind 600 Jahre lang die Herrscher über das Land gewesen. Zuvor waren unsere Vorfahren über die Grenze von Thailand über Myanmar eingewandert und hatten sich im artenreichen Brahmaputra-Tal niedergelassen. Wie die anderen indigenen Völker der Region, zum Beispiel die Mishings, die Bodo, Tiwa oder Adivasi, sind sie weitgehend von Landwirtschaft und Ackerbau abhängig. Die von mir beschriebenen Klimawandelfolgen gefährden bereits jetzt unsere Lebensgrundlagen.
Sie sind der Gründer und Vorsitzende des Indigenous People’s Climate Justice Forum. Was ist der Zweck dieses Forums?
Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass die Intensität und Häufigkeit von Ãœberschwemmungen zugenommen hat. Konflikte zwischen Menschen und Elefanten waren früher saisonal, jetzt treten sie das ganze Jahr über und in einem größeren Gebiet auf. All dies kann direkt mit den veränderten Niederschlägen und anderen Auswirkungen des Klimawandels in Verbindung gebracht werden. Und die Menschen, die unter all dem leiden, haben überhaupt nichts zum Ausstoß von Treibhausgasen beigetragen. Gerade die Leute in den ländlichen Gebieten leben immer noch sehr technologie- und kohlenstoffarm – aber sie stehen an vorderster Front des Klimawandels, ebenso wie indigene Völker auf der ganzen Welt.
Während der Teilnahme an internationalen Klimaverhandlungen habe ich immer wieder festgestellt, dass es in diesen Foren keine Vertreter*innen der indigenen Gemeinschaften gibt. Allein in Indien gibt es über 700 verschiedene indigene Gemeinschaften, die aber bei den Verhandlungen niemand vertritt, obwohl sie ausnahmslos unter klimawandelbedingten Katastrophen leiden. Sie werden dann beispielsweise auch nicht berücksichtigt, wenn es um die Vergabe finanzieller Mittel zur Klimawandelanpassung geht. Das ist der Grund, warum ich dieses Forum ins Leben gerufen habe.
Sie geben den indigenen Gemeinschaften also eine Stimme in den politischen Prozessen…
Ja. Die indigenen Völker sind die Hüter der letzten natürlichen Lebensräume auf unserem Planeten und verfügen über kostbares Wissen, was den schonenden Umgang mit der Natur angeht. Daher bin ich der Meinung, dass sie diese Erfahrung weitergeben und den weltweiten Übergang zu einer nachhaltigen Zukunft mit anführen sollten. Wir dokumentieren die Möglichkeiten zur natürlichen Anpassung in unseren Regionen und arbeiten mit anderen indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften auf der ganzen Welt zusammen. Hier in Assam zum Beispiel baut die Mishing-Gemeinschaft ihre Häuser auf Stelzen. Da sie sehr gut ausgestattete Küchen haben, sind diese Menschen sehr resilient und können in ihren Häusern überleben, selbst bei wochenlangem Hochwasser. Sie besitzen Boote, um sich fortzubewegen, und sie haben auch bestimmte Reissorten entwickelt, die resistent gegenüber Überschwemmungen sind. Diese Art von Widerstandsfähigkeit kann in anderen Gebieten nachgeahmt werden.
Was können moderne Gesellschaften in Zeiten des Klimawandels von den indigenen Gemeinschaften lernen?
Weltweit leben indigene Gemeinschaften seit Jahrtausenden in friedlicher Koexistenz mit der Natur, weil sie sich selbst als Teil der Natur betrachten. Die westlichen Gesellschaften könnten lernen, wie man mit der Natur lebt, denn das ist für mich die Definition von Resilienz.
80 Prozent der verbleibenden Naturgebiete auf der Erde befinden sich noch im Besitz oder unter der Verwaltung indigener Gemeinschaften. Darin liegt die Antwort. Die indigene Art der Bewirtschaftung natürlicher Flächen sollte genutzt werden, um zerstörte Gebiete wiederherzustellen und die Bemühungen zur Wiederaufforstung zu unterstützen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich arbeite mit meinem Freund Jadav Payeng aus der Mishing-Gemeinschaft zusammen, der als „der Waldmensch von Indien“ bekannt ist. Seine Methode besteht darin, die Natur mit einheimischen Arten nachzubilden. So schafft er Wälder, keine Baumplantagen. Dabei fragt er sich: Wie würde ein Elefant oder ein Vogel hier pflanzen? Und zu welcher Jahreszeit? Sein Wald besteht nun seit vierzig Jahren und ist heute die Heimat von Königstigern, Nashörnern, asiatischen Elefanten und Hunderten von Vogelarten. Alle Studien weisen darauf hin, dass seine Methode eine der wirksamsten für die Bindung von Kohlenstoff ist.
Welche Klimaschutz-Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht besonders wichtig?
Meiner Meinung nach sollten alle naturbasierten Lösungen in die Hände der indigenen Gemeinschaften gelegt werden. Die im Rahmen der internationalen Klimaverhandlungen eingerichteten Fonds sollten auch Maßnahmen zur Wiederherstellung und Wiederaufforstung von degradierten Flächen umfassen, die indigenen Gemeinschaften gehören oder von ihnen verwaltet werden. Laut 30/30-Ziel des Globalen Rahmens für Biodiversität sollen bis 2030 weltweit 30 Prozent der Land- und Meeresflächen renaturiert und unter Schutz gestellt werden. Die indigenen Gemeinschaften können dabei eine zentrale Rolle spielen: Bei der Umsetzung von Maßnahmen sollten sie über die finanziellen Mittel und die Entscheidungsmacht verfügen, damit sie das, was einst ihr Land war, selbst wiederherstellen können.
Dieses Gespräch führte Jonas Daldrup.