Soziale Gerechtigkeit, Unkategorisiert, Zukunftslabore allgemein, Zukunftslabore von unten

Frank Jäger (Tacheles): Selbst Akteur sein und nicht komplett fremdgesteuert leben.

Frank Jäger ist seit 2006 als Sozialberater, Referent und Onlineredakteur für den Wuppertaler Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles e.V. tätig. Darüber hinaus ist er seit 2008 zusammen mit Harald Thomé Herausgeber des Leitfadens Alg II/Sozialhilfe von A-Z. denkhausbremen hat die Initiative am 19.09.2018 in Wuppertal besucht und mit Frank Jäger dieses Interview geführt.

denkhausbremen: Wie sind Sie zum Tacheles e.V. gekommen und was ist Ihre Aufgabe hier?

Frank Jäger: Ich bin 2006 nach Wuppertal gekommen, um Tacheles bei der Sozialberatung und der politischen Arbeit zu unterstützen. Hier bin ich in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Selbstorganisation und Vernetzung für den Verein tätig. Wir sind bundesweit sehr gut vernetzt mit anderen Erwerbslosen-Initiativen und versuchen immer wieder mit gemeinsamen Projekten für uns wichtige Themen in die Öffentlichkeit zu bringen. Aktuell gibt es das Bündnis “AufRecht bestehen!”. Hier sind verschiedene Erwerbslosen-Gruppen und die Nationale Armutskonferenz im Boot und versuchen gemeinsam, die Probleme bei den Unterkunftskosten im Bereich Hartz IV und Sozialhilfe zu skandalisieren. Die Leistungen fürs Wohnen reichen oft nicht zur Deckung der tatsächlichen Mietkosten und die Betroffenen werden dadurch unter das Existenzminimum gedrückt. Solche Themen gelangen selten in das öffentliche Bewusstsein.

denkhausbremen: Gelingt es, so ein Thema erfolgreich in die öffentliche Diskussion zu setzen?

Frank Jäger: Das ist sehr schwierig, da es immer aktuelle Leitthemen gibt, die kaum Platz lassen. Wir versuchen gegen diese mediale Übermacht z.B. mit dezentralen Aktionstagen zu unseren Themen zu punkten und öffentliche Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Hier gehen wir auch Bündnisse mit den großen Wohlfahrtsverbänden ein.

denkhausbremen: Wie ist der Verein Tacheles entstanden? Was war die Initialzündung?

Frank Jäger: Die auslösenden Ereignisse waren die rassistischen Brandanschläge in Mölln 1992 und Solingen 1993 sowie eine Neid-Debatte, die schon damals Migrant*innen und Erwerbslose gegeneinander ausgespielt hat. Die Gründer*innen von Tacheles waren selbst erwerbslos und verfügten oft über einen langjährigen politischen Hintergrund. Unser Vorstandsmitglied Harald Thomé war schon damals mit dabei. Von Anfang an hat Tacheles ganz klar Position gegen Rassismus und Faschismus bezogen und sich für ein solidarisches Miteinander positioniert. Migrant*innen und Erwerbslose sitzen in einem Boot, da sie gleichermaßen von gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen sind.

denkhausbremen: Wie viele Aktive waren am Gründungsprozess beteiligt?

Frank Jäger: Das war eine kleinere Gruppe von fünf bis zehn Leuten, die in wechselnden Konstellationen den Verein gegründet und fortentwickelt haben. Ein zentraler Pfeiler war von Anfang an die Rechtsberatung für Sozialhilfebeziehende und Erwerbslose. Die Gründer*innen haben meist selbst Sozialhilfe bezogen und die Kämpfe wurden daher mit dem Sozialamt ausgetragen. Es gab aber von Anfang an auch eine konsequente politische Arbeit gegen Rassismus.

denkhausbremen: Tacheles hat sich also nie als reine Selbsthilfegruppe betrachtet…

Frank Jäger: Wir haben unser Tun immer als eine politisch emanzipatorische Arbeit begriffen. Auch wenn wir zunächst auf der rechtlichen Ebene versuchen, die Spielräume für Erwerbslose zu erweitern, steckt dahinter immer auch eine systemische Frage: Wie werden Arme in unserer Gesellschaft ausgegrenzt und diskriminiert?

denkhausbremen: Wie finanziert sich der Verein?

Frank Jäger: Bis auf NRW-Landesmittel zur Förderung von Arbeitslosenzentren sind wir komplett unabhängig von öffentlichen Geldern. Ein wichtiger Pfeiler für unsere Einnahmen ist unser Café-Betrieb. Wir können uns daher politisch durchaus “aus dem Fenster lehnen”, da niemand uns den Hahn abdrehen kann.

denkhausbremen: Wie sieht Ihr Netzwerk aus?

Frank Jäger: Wir sind lokal, regional und bundesweit vernetzt. In Wuppertal arbeiten wir z.B. mit der Linkspartei zusammen, die uns Anfragen im Stadtrat ermöglicht, ohne dass eine Vereinnahmung stattfindet. Darüber hinaus kooperieren wir mit Flüchtlings- und Antifa-Gruppen. Auf Landesebene gibt es eine Zusammenarbeit mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband. Im Bund haben wir Kontakte zu den Bundestagsfraktionen der Linken und der Grünen sowie zu Wohlfahrtsverbänden und natürlich den bundesweiten Erwerbslosen-Bündnissen. Solche Kooperationen sind oft sehr projektbezogen.

denkhausbremen: Was hält die Arbeit von Tacheles dauerhaft am Laufen? Braucht es da Hauptamtliche?

Frank Jäger: Bei uns gibt es gar keine hauptamtlich Aktiven. Als gemeinnütziger Verein sind nur geringe Aufwandsentschädigungen, Reisekosten und kleine Honorare möglich. Es gibt jedoch einen harten Kern von rund acht Leuten, der kontinuierlich unsere Sozialberatung aufrecht erhält. Drumherum ist dann ein Kreis von Aktiven, der immer mal thematisch zuarbeitet oder an Aktionen teilnimmt. Wir behalten eine offene Struktur, damit wir für unterschiedlichste Mitstreiter*innen passende Angebote machen und Räume bieten können. Das fängt mit einem niedrigschwelligen Ansatz wie unserem “Erwerbslosen-Brunch” an und führt bis zu Angeboten, bei denen sich Erwerbslose als Aktive im Kampf gegen gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse begreifen.

denkhausbremen: Können Sie den emanzipatorischen Ansatz von Tacheles noch etwas ausführlicher erläutern?

Frank Jäger: Zunächst einmal ist es schwierig, Menschen, die um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen, politisch zu organisieren und kontinuierlich einzubinden. Der erste Punkt ist unsere Beratung mit emanzipatorischen Ansatz. So kommt man aus der Opferrolle raus, da klar wird, dass man auch Rechte hat. Einige Leistungsbezieher haben wir dann selbst weiter für die Beratung von Erwerbslosen geschult. Der zweite Schritt ist die Vernetzung von Betroffenen, die aus ihrer Vereinzelung ausbrechen und sich zu ihren Erfahrungen austauschen können. Im dritten Schritt werden Erwerbslose dann selbst aktiv. Derzeit haben wir eine Ämterbegleitungs-Gruppe nach dem Motto “keiner geht alleine auf´s Amt” auf den Weg gebracht. Oft findet während einer solchen Begleitung aufs Jobcenter zum ersten Mal eine Kommunikation auf Augenhöhe mit dem Sachbearbeiter statt.

denkhausbremen: Finden Ratsuchende aus der Erwerbslosenberatung auch den Weg zu der antirassistischen Arbeit von Tacheles?

Frank Jäger: Das ist leider relativ selten der Fall. Häufig haben die Leute, die zu uns kommen, aufgrund ihrer Lebenslage nicht den Kopf frei für solche Themen.

denkhausbremen: Was raten Sie anderen Initiativen, die neu an den Start gehen wollen?

Frank Jäger: Jede Initiative benötigt für einen dauerhaften Erfolg einen ruhenden Kern. Dazu gehört eine zentrale Arbeit, die kontinuierlich läuft. Das ist bei uns die Beratung. Wenn das gut läuft, kann man sich unter realistischer Beachtung der eigenen Ressourcen die öffentliche Debatte näher anschauen: Gibt es es da Punkte, bei denen man sich reinhängen oder eine Kampagne selbst an den Start bringen kann? Wenn ja, ist das der Startschuss.

denkhausbremen: Haben Sie Erfahrungen mit konkreten Kampagnen gemacht?

Frank Jäger: Wir haben in letzter Zeit z.B. das Bündnis Sozialticket NRW selbst initiiert, als im vergangenen Jahr die NRW-Landesregierung die Mittel für das Sozialticket komplett streichen wollte. Nach großem Protest und einer landesweiten Demo, die wir in Wuppertal organisiert hatten, wurde die Kürzung sehr schnell wieder zurückgenommen. Das war ein besonderer Moment, wo wir zum richtigen Zeitpunkt mit unseren Bündnispartner*innen in die gesellschaftliche Debatte eingreifen und erfolgreich Verschlechterungen im sozialen Bereich abwehren konnten. Wir arbeiten weiter an dem Thema, um künftige Kürzungen zu verhindern und für Verbesserungen zu kämpfen. Am 27. Januar dieses Jahres kamen in Wuppertal auf unsere Einladung hin mehr als 40 Vertreter*innen aus verschiedenen Parteien, Initiativen und Erwerbslosen-Gruppen aus NRW zu einem ersten Bündnistreffen zusammen.

denkhausbremen: Wie schätzen Sie allgemein die Möglichkeit der Partizipation von einkommensschwachen Menschen in unserem Land ein?

Frank Jäger: Unsere Demokratie ist in einem schlechten Zustand. Neben den Menschen “ganz unten” werden auch viele Teile bis in die Mittelschicht hinein von der Politik nicht mehr gesehen, da sie nicht für die New Economy verwertbar sind. Die Mittelschicht versucht sich aktuell krampfhaft an Statussymbolen und individuellem Konsum zu orientieren, was dann zum Lebenszweck mutiert. Diese Möglichkeit haben Erwerbslose natürlich nicht.

Einige Wenige kommen mit der Erwerbslosigkeit ganz gut zurecht, können ihre Bedürfnisse entsprechend runterschrauben und auch im Leistungsbezug eine gewisse Autonomie bewahren. Es ist gut, dass es solche Beispiele gibt, denn sie zeigen, dass ein erfülltes Leben nicht von Geld und Konsum abhängen muss. Es gibt andere erstrebenswerte Dinge wie Zeitautonomie und die Möglichkeit, sich z.B. über das Internet selbst weiterzubilden. Viele Erwerbslosen fühlen sich aber in ihrer Isolation als gesellschaftlich Ausgegrenzte. Das kann die Leute dauerhaft sehr frustrieren und auch krank machen.

denkhausbremen: Lohnt es sich trotzdem, sich von unten zu engagieren und zu organisieren?

Frank Jäger: Da muss man sicherlich dicke Bretter bohren und einen langen Atem haben. Es wird immer wieder Situationen geben, die frustrierend sind und in denen man einfach keine Energie mehr hat. Es lohnt sich insgesamt aber schon, auch wenn man immer nur kleine Schritte in Richtung Ziel machen kann. Die emanzipatorische Arbeit ist eine sehr autonome Arbeit: Man selbst ist Akteur und lebt nicht komplett fremdgesteuert.