Teja Tscharntke im Gespräch mit denkhausbremen über Bioökonomie, Landwirtschaft und Artenvielfalt. Der Soziologe und Biologe ist seit 1993 Professor für Agrarökologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Er ist im deutschsprachigen Raum der am meisten zitierte Ökologe.
denkhausbremen: Ist die Bedeutung der Biodiversität ausreichend im Fokus der Öffentlichkeit oder wird dieses Thema zu Unrecht von der Klimadebatte überlagert?
Teja Tscharntke: Sicher ist die Klimadebatte besonders durch Fridays for Future sehr präsent in der Öffentlichkeit, was aber nicht heißt, dass dem Artensterben keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der dramatische Rückgang der Insektenpopulationen hat schließlich Volksbegehren nach sich gezogen, deren Forderungen zumindest teilweise von der Politik aufgegriffen worden sind.
Auch im Rückblick wird die aktuell zunehmende Relevanz deutlich. Als ich 1993 in Göttingen meine Professur angetreten habe, war das Thema Biodiversität weder in der Wissenschaft noch in der Gesellschaft präsent. Wenn in der Landwirtschaft über Umweltbelastung geredet wurde, spielten Überdüngung, Gewässerverunreinigung oder die negativen Auswirkungen von Pestiziden eine Rolle. Artensterben hingegen war damals noch ein sehr marginales Thema.
Bei der Klima-Debatte haben viele mittlerweile eine Vorstellung von den groben Zusammenhängen. Beim Thema Artenvielfalt gehen die Assoziationen über “immer weniger Insekten auf der Autoscheibe” nicht hinaus….
Nach meiner Beobachtung ist bei uns das Thema Artenvielfalt nicht so traditionell verankert wie zum Beispiel in Großbritannien. Dort wie auch in den Niederlanden ist zum Beispiel Vogelbeobachtung quer durch die Bevölkerungsschichten sehr verbreitet. Damit geht eine hohe Naturverbundenheit einher und der Artenrückgang steht mehr im Fokus der Öffentlichkeit. Gerade im Hinblick auf die Vogelpopulationen in unseren Kulturlandschaften wird das Artensterben deutlich erkennbar, denn in den letzten drei Jahrzehnten sind mehr als 50% der traditionell eigentlich häufigen Feldvögel einfach verschwunden.
Hinzu kommt, dass es zwischen Biodiversitätsschutz und Ernährung der Weltbevölkerung in der öffentlichen Wahrnehmung möglicherweise Zielkonflikte geben könnte. Was heißt das übersetzt für unsere Landwirtschaft?
Die Weltbevölkerung wird schätzungsweise auf 10 Milliarden wachsen und damit verbunden ist eine zunehmende Lebensmittelnachfrage. Diese wird von großen Teilen der Landwirtschafts-Lobby betont, um dem Umwelt- und Naturschutz wenig Raum zu lassen. Dabei gibt es im System genügend Stellschrauben, um beides zu befördern. Immerhin verderben bei uns 30-50% der Lebensmittel im Supermarkt oder bei den Verbraucher*innen. In tropischen Länder ist das ebenfalls ein Problem in dieser Größenordnung; hier betrifft das vor allem die Verluste bei der Lagerung.
Ein weiterer Punkt ist der global steigende Fleischkonsum. Selbst in Ländern wie Indien, wo traditionell viel vegetarisch gekocht wird, kommt immer öfter Fleisch auf den Tisch. Dabei ist der Kalorienverlust bei der Fleischproduktion enorm. Bei Rindfleisch etwa wird für eine Kalorie Fleisch die sechzehnfache Menge an pflanzlichem Futter eingesetzt. Geflügelfleisch ist dagegen fast „vegetarisch“, da nur drei Kalorien gebraucht werden.
Diese Debatte wird schon länger geführt. Was schlagen Sie vor?
Es stellt sich die grundlegende Frage der globalen Verantwortlichkeit. Was für einen ökologischen Fußabdruck gönnen wir uns hier in Deutschland? Klar ist, wenn alle Menschen so leben würden wie wir, würde das nicht hinhauen! Demnach sollten wir unseren Ressourcenverbrauch mindestens um die Hälfte reduzieren, aber entsprechende politische Forderungen gibt es nicht. Diese wären auch sehr unpopulär, wenn man bedenkt was für einen Aufschrei zum Beispiel eine fünfprozentige Steuererhöhung bereits auslösen würde. Deshalb ist es realistisch, in kleineren Schritten voranzukommen, wie beim Lieferkettengesetz. Aber auch in diesem Fall wird es zu Preissteigerungen bei Lebensmitteln kommen.
Haben Sie denn eine Idee, wie sich der Spagat zwischen sozialer Verantwortung und Preissensibilität überwinden lässt?
Da habe ich auch keine Patentlösung. Wir sollten allerdings an die ethische und moralische Verantwortung des Einzelnen appellieren, um so ein stärkeres Bewusstsein zu schaffen. Denn Menschenrechte sollten für alle Menschen auf unserer Erde gelten! So eine graswurzelartige Entwicklung gab es auch in der Debatte um die Atomenergie. Nach Jahrzehnten großer Proteste war auf einmal ein Großteil der Bevölkerung bei diesem Thema überzeugt und entschied: Bis hierher und nicht weiter!
Sie sprechen über die Verantwortlichkeit des Einzelnen. Sind hier nicht vielmehr die Spielregeln entscheidend?
Da bin ich ganz bei Ihnen. Menschen machen sich schnell Illusionen für ein gutes Öko-Gewissen. Wer eine Waschmaschine mit Energiesparmodus kauft, hat gleich das Gefühl, die Welt zu retten. Daher müssen eindeutige Grenzen und Marktregulierungen definiert werden. Entscheidend ist hier eine sozial-ökologisch motivierte Gesetzeslage!
Neonics und Glyphosat sind fast in aller Munde. Sollten Pestizide mit negativen Auswirkungen ganz aus dem Verkehr gezogen werden?
Bei den Pestiziden sind neben den direkten auch viele subletalen Effekte entscheidend, die jedoch nicht bei der Risikobewertung herangezogen werden: Der Insektenmann findet seine Frau nicht mehr, die Insekten sind orientierungslos, verwirrt, in ihrer Vitalität eingeschränkt, anfällig für Krankheiten, legen kaum noch Eier und sie leben kürzer. Diese Mechanismen sind gut und massenhaft dokumentiert, allerdings jeweils in isolierten Studien. Nichtsdestotrotz sind für meinen Geschmack Pestizide zu stark im Fokus der Debatte. Die strukturelle Vielfalt in den Landschaften ist ein wesentlich wichtigerer Ansatzpunkt für den Erhalt und die Wiederherstellung der Artenvielfalt.
Können Sie die Bedeutung der strukturellen Vielfalt noch weiter erläutern?
Das Überleben von Arten kann nicht durch eineinzelnes Feld gesichert werden. Es hängt von den Ressourcen in der umgebenden Landschaft ab.. Bei Artenschutz-Konzepten sollte daher großräumig gedacht werden! Dieser Blickwinkel fehlt mir bislang in der EU-Politik.
Mit welchen konkreten Maßnahmen kann Artenvielfalt unterstützt werden?
Es wäre schon viel gewonnen, wenn es lange und diverse Fruchtfolgen gäbe. Insgesamt ist jede Art von Heterogenität förderlich. Früher waren kleine Tümpel allgegenwärtig, heute gibt es sie kaum noch, aber auch Gehölze und Wiesenabschnitte sind wichtig. Es braucht kleinere Felder, die eine Landschaft mosaikartig gestalten. Populationen von Arten leben auf einer größeren Skala, sie müssen großräumig miteinander in Interaktion treten. Deswegen sollten Landschaften durchlässig für Insekten sein. Je mehr Feldränder es gibt, desto mehr Insekten können sich ausbreiten.
Geht der Zug nicht vielmehr in die andere Richtung, immer weniger und dafür sehr große Felder?
Da sind wir bei der Frage der Regulierungen und Anreizsysteme. Alle Veränderungen sind in der Regel mit Kosten verbunden. Die Entwicklung, die wir momentan haben, ist Effizienz-getrieben, und große Felder mit wenigen, großen Maschinen sind wirtschaftlicher. Das zeigt auch unser Vergleich zwischen der großteiligen Landwirtschaft in Thüringen und der kleinteiligeren Struktur im angrenzenden Niedersachsen: Mit einem 20 ha Feld lässt sich 50% mehr Profit erzielen, wie bei einem 3 ha Feld. Der Weizenertrag pro Hektar bleibt hierbei konstant, doch die variablen Kosten sind bei großen Feldern viel geringer.
Ist Bio die Lösung?
Zumindest nicht die alleinige, da auch im Biolandbau kleine Flächen oder abwechslungsreiche Fruchtfolgen nicht für die Zertifizierung verpflichtend sind. Hinzu kommt der Pestizideinsatz, der bei Bio- Sonderkulturen, wie Wein, Kartoffeln, Obst und Gemüse schätzungsweise nur 20% geringer ist als im konventionellen Landbau. Bio-Tomaten, die völlig steril im Gewächshaus angebaut wurden oder der Gemüseanbau in Landschaften, die durch Plastik abgedeckt sind, haben nichts mehr mit der Familienidylle eines Öko Hofes zu tun. Insgesamt gilt im Hinblick auf die Artenvielfalt: Lieber ein kleines konventionelles Feld als ein großes ökologisches!
Für eine Bioökonomie werden möglicherweise große Menge nachwachsender Rohstoffe benötigt. Wird Ihnen als Biodiversitätsforscher da nicht angst und bange, wenn noch höhere Erträge aus der Agrarlandschaft erwirtschaftet werden müssen?
Ich befürchte, dass der globale Süden hier unsere Rohstoffquelle sein wird. Marktwirtschaftliche Aspekte, die oft Verantwortung und Nachhaltigkeit außen vor lassen, sind maßgeblich verantwortlich dafür, dass wir Soja nicht lokal bei uns anbauen, sondern zu unglaublich niedrigen Preisen importieren können. Selbst bei dem in Deutschland angebauten Getreide wird weniger als ein Fünftel für die Ernährung genutzt, 60% finden als Tierfutter Verwendung. Deutschland ist ein großer Tierfleischexporteur. Kurzum, es gibt eine Konkurrenz um Fläche, die nach Regeln der freien Marktwirtschaft entschieden wird.
Sehen Sie einen Weg, wie Rohstoffe halbwegs verantwortungsvoll für die Bioökonomie produziert werden könnten? Oder ist das Agrarsystem schon so strapaziert, dass hier kaum noch Luft nach oben ist?
Man müsste neue Prioritäten setzen und entsprechende Regeln einführen! Ähnlich wie die Entwicklung des Waldes, der heute nicht mehr primär der Holzwirtschaft dient, sondern wesentlich als Erholungsgebiet gesehen wird. Auch die Wissenschaft hat sich in diese Richtung entwickelt, hier an der Universität Göttingen befasst man sich mit dem Wald in der Fakultät für Forstwirtschaft und Waldökologie. Agrarwirtschaft und Agrarökologie würden viele dagegen nicht so gerne in einem Atemzug hören. Landwirtschaftliche Verbände und Teile der Agrarwissenschaften kommen immer wieder mit der moralischen Verantwortung für die Welternährung, um hohe und konkurrenzfähige landwirtschaftliche Produktivität durchzusetzen. Bezogen auf die Bioökonomie denke ich, dass es auf zentrale, gesamtgesellschaftlich zu beantwortende Fragen hinausläuft: Wieviel tierische und pflanzliche Lebensmittel und wieviel Bioenergie wollen wir produzieren und wie sieht es mit unseren Menschenrechts-Standards für Importe aus? Wollen wir eine ästhetisch ansprechende, artenreiche Kulturlandschaft erhalten bzw. wiederherstellen oder wollen wir sie aufgeben zugunsten einer von großen Monokulturen dominierten Einöde?