denkhausbremen hat Karl-Heinz Figas und Jürgen Kehnscherper vom Erwerbslosenparlament Mecklenburg-Vorpommern am 01.02.2019 in Schwerin besucht und dieses Interview geführt. [Die Fotos zeigen Projektleiter Michael Gerhardt (Mitte) mit Karl-Heinz Figas (links) und Jürgen Kehnscherper (rechts) vor dem Haus der Begegnung in Schwerin.]
denkhausbremen: Wie kam es zur Gründung des Erwerbslosenparlamentes?
Karl-Heinz Figas: Die Idee kam zu den Zeiten der Montagsdemos gegen Arbeitslosigkeit und Armut Ende der 90er Jahre auf. Einige Betroffene hier aus Mecklenburg-Vorpommern haben dann 1998 die Gründung eines Erwerbslosenparlaments tatsächlich realisiert. Uns gibt es also seit nunmehr 21 Jahren.
denkhausbremen: Gibt es etwas Vergleichbares noch an anderer Stelle?
Karl-Heinz Figas: Ein Erwerbslosenparlament ist auch in Thüringen entstanden. Das ist aber anders aufgestellt. Wir hier organisieren alles selbst ohne große Hilfe von der Politik. In Thüringen laden die Politiker/innen zum Arbeitslosenparlament ein. Unterstützung bei der Gründung hier in Mecklenburg-Vorpommern gab es u.a von Seiten der Gewerkschaften, von Bündnis 90/Die Grünen und von Wohlfahrtsverbänden. Wir sind sehr froh, dass wir mit Jürgen Kehnscherper auch den KDA (Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt) an Bord haben, da der KDA sehr gute Kontakte hat.
denkhausbremen: Welchen Ruf hat das Erwerbslosenparlament vor Ort?
Jürgen Kehnscherper: Das Parlament wurde am Anfang zum Teil in die linke Ecke gestellt. Das hing auch damit zusammen, dass ein wichtiges Gründungsmitglied Funktionsträger in der DDR war. Da ist die Beteiligung des KDA ganz hilfreich, um die Unabhängigkeit auch öffentlich darzustellen. Ganz bewusst sind in unserem Parlament auch keine Funktionäre von Parteien vertreten. Wir laden natürlich alle Parteien außer die AfD regelmäßig ein. Im Jahr 2002 wurde unsere Arbeit für Solidarität bei Arbeitslosigkeit und Armut mit dem Regine-Hildebrandt-Preis ausgezeichnet.
denkhausbremen: Wie funktioniert die Organisation?
Karl-Heinz Figas: Das Erwerbslosenparlament kommt einmal im Jahr hier in Schwerin zusammen, schätzt dann die Beschäftigungs- und Sozialpolitik im Land ein und beschließt die gemeinsamen Forderungen an die Politik sowie die eigenen Vorhaben zur Interessenvertretung der Betroffenen für das folgende Jahr. Meist kommen zum Parlament rund 100 Personen. Die im Netzwerk vertretenen Verbände benennen dann die Vertreter/innen für den Erwerbslosenbeirat, der regelmäßig alle sechs bis acht Wochen tagt. Auch Einzelpersonen können in den Beirat gewählt werden. Derzeit sind das rund 20 Personen.
denkhausbremen: Sind denn auch Betroffene in dem Parlament, oder doch überwiegend Funktionsträger?
Jürgen Kehnscherper: In den letzten Jahren haben wir es geschafft, mehr Betroffene in die Parlamentsarbeit einzubinden. Am Anfang ging die Gründung ja von Betroffenen aus. Nach einigen Jahren wurde die Arbeit dann aber immer mehr von Funktionsträgern aus Verbänden und Vereinen dominiert. Jetzt gibt es dazu wieder eine Gegenbewegung. Wir verstehen uns als Stimme der Langzeitarbeitslosen. Es war jedoch nicht immer einfach Betroffene zu finden, die dann auch im Parlament sprechen. Da arbeiten wir auch gerade mit Unterstützung der “Denkfabrik-Forum für Menschen am Rande” in Stuttgart an der Befähigung von Betroffenen nach dem Motto: “Wie sag ich es den Politikern”. Das läuft bisher sehr erfolgversprechend.
Karl-Heinz Figas: Mittlerweile sind rund 60 bis 70 Prozent des Parlaments Betroffene, hauptsächlich Hartz IV-Bezieher/innen und Ein-Euro-Jobber. Das Hauptthema ist somit natürlich auch die schonungslose Analyse der gravierenden Fehlentwicklungen bei Hartz IV. Da geht es konkret um die repressive Sanktionspraxis, die Höhe der Regelsätze und die daraus folgende Armut. Wir haben in einer Aktion einen Warenkorb mit der Wochenration eines Hartz IV-Empfängers bestückt und damit einige öffentliche Aufmerksamkeit auch in den Medien erzeugt.
denkhausbremen: Was sind bisher die größte Erfolge des Erwerbslosenparlamentes?
Karl-Heinz Figas: Unsere Vorschläge hatten in der Vergangenheit z.B. Eingang in das Arbeitsmarktprogramm von Mecklenburg-Vorpommern. Das war ein schöner Erfolg. Darüber hinaus wird unsere Arbeit im Land anerkannt und geachtet.
denkhausbremen: Mal zu einem Thema, wo möglicherweise doch Tretminen vergraben liegen. Gibt es eine Konkurrenz von Langzeitarbeitslosen zu Flüchtlingen hier vor Ort?
Karl-Heinz Figas: Wie hören da öfter Sätze wie “die kriegen alles, wir müssen uns darum bemühen”…
Jürgen Kehnscherper: Es geht da häufig nicht nur um Geldleistungen, sondern auch um die öffentliche Aufmerksamkeit. Die Haltung des Erwerbslosenparlaments war da immer eindeutig: Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen.
denkhausbremen: Wäre sowas wie die “Gelbwesten”-Bewegung in Frankreich auch hier möglich?
Karl-Heinz Figas: Es ist hier enorm schwierig, Langzeitarbeitslose zu Protesten auf die Straße zu kriegen. Viele haben resigniert und sich mit dem eingerichtet, was sie kriegen.
Jürgen Kehnscherper: Wichtig ist, dass die Betroffenen Zugang zu politischer Bildung bekommen. Wir haben da jetzt sehr gute Erfahrungen mit unserem Seminarangebot dazu gemacht. Da helfen uns auch unsere guten Kontakte zu einigen Beschäftigungsträgern. Die suchen uns dann auch passende Teilnehmer/innen aus. Was in unseren Seminaren immer wieder deutlich wird ist, wie die Menschen unter dem Hartz IV-System leiden. Keine/r von unseren Teilnehmer/innen hatte irgendwie bewusst vor, in der Langzeitarbeitslosigkeit zu landen. Wir hoffen, dass diese Menschen sich dauerhaft bei uns einbringen.
denkhausbremen: Was halten Sie von der Diskussion zum bedingungslosen Grundeinkommen?
Jürgen Kehnscherper: Kommt darauf an, wer das fordert. Das kann gefährlich sein, z.B. als neoliberale Vision einer Gesellschaft, in der alle auf sich allein gestellt sind und jede soziale Verantwortung wegfällt. Sinnvoller ist der Ausbau der bereits bestehenden sozialen Unterstützungsleistungen, wie Kindergeld, Erziehungsgeld, Wohngeld etc.
Karl-Heinz Figas: Was bringt auch ein Grundeinkommen von zum Beispiel 1.000 Euro, wenn man schon 600 Euro an Miete zahlen muss. Eine bessere Alternative stellt für uns der von der Diakonie entwickelte Passiv-Aktiv-Transfer dar. Da wird Arbeitslosen durch staatliche Zuschüsse eine Beschäftigung ermöglicht. Es sollte nicht mehr Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit bezahlt werden. Hier ist ein Umdenken bei den politisch Verantwortlichen dringend notwendig.
denkhausbremen: Gibt es bei Ihnen ein Spannungsverhältnis zwischen Betroffenen und Profis aus den Vereinen und Verbänden?
Karl-Heinz Figas: Ich habe Anfang der 90er Jahre sehr viele Arbeitsloseninitiativen in ganz Deutschland auch persönlich kennengelernt. Von den Erfahrungen dieser Gruppen haben wir auch viel übernommen, was uns gut gefallen hat. Ein wichtiger Standpunkt der Gruppen, die ich besucht hatte, war immer: “Wir lehnen es ab, von oben gesteuert zu werden.” Wir sehen das etwas anders: Wir wollen ja eine Veränderung der Situation für Erwerbslose bewirken. Das kann man nur schaffen, wenn man stark genug ist. Dazu müssen Betroffene mit Verbänden, Kirchen und Gewerkschaften zusammenarbeiten.
Jürgen Kehnscherper: Ist die Beteiligung der Kirche am Erwerbslosenparlament denn schon “von oben”? Ich bin in der privilegierten Lage, dass ich diese Arbeit im Rahmen meiner Tätigkeit als Regionsverantwortlicher Mecklenburg und Pommern der KDA Nordkirche machen kann. Fast alle Vertreter/innen der Verbände im Parlament oder im Beirat sind ehrenamtlich; keiner reisst sich da um Posten oder Geld. Wo ist denn da “oben”?
denkhausbremen: Wie entwickelt sich das Erwerbslosenparlament aktuell? Sind da immer die gleichen Leute oder kommen auch neue, jüngere Personen dazu. Wie sieht es mit dem Frauenanteil aus?
Karl-Heinz Figas: Natürlich gibt es einen festen Stamm von Aktiven, der über die Jahre immer auch einem Wechsel der Personen unterliegt. Jetzt sind zwei jüngere Aktive im Alter um die 40 dazugekommen, das ist bei uns eher jung. Wir kriegen gerade einen Generationswechsel hin. Beim Frauen-Männer-Anteil ist es bei uns sehr ausgewogen. Das Thema Gleichberechtigung regt mich ohnehin auf. Da waren wir in der ehemaligen DDR doch in vielen Bereichen schon viel weiter gewesen.
denkhausbremen: Ist das Modell eines Erwerbslosenparlamentes auch auf andere Bundesländer übertragbar. Es gibt derzeit in Baden-Württemberg Überlegungen in dieser Richtung…
Jürgen Kehnscherper: Definitiv!
Karl-Heinz Figas: Wenn im Vorfeld genügend Kontakte zu Gewerkschaften, Kirchen, Politik und Verbände geknüpft werden, kann das sehr gut gelingen.