Helmut Röscheisen im Gespräch mit Denkhaus Bremen über die Geschichte der Umweltbewegung, die Grenzen des Wachstums und warum Gerechtigkeitsfragen auch für Umweltverbände relevant sind. Helmut Röscheisen war von 1980 bis 2014 Generalsekretär des Deutschen Naturschutzrings (DNR), der Dachorganisation der bundesdeutschen Umweltverbände mit rund 100 Mitgliedsverbänden und über fünf Millionen Mitgliedern.
Denkhaus Bremen: Herr Röscheisen, Sie haben den Deutschen Naturschutzring (DNR) von 1980 bis 2014 als Generalsekretär geführt. In den 1970er und 80er Jahren gab es eine Phase, in der verstärkt auch Wachstums- und Systemkritik geübt wurde. “Die Grenzen des Wachstum“ vom Club of Rome wurden 1972 veröffentlicht und haben Fragen nach Wirtschaftsmodell und Lebensweise in eine breitere Öffentlichkeit gebracht. Wurde die Wachstumsfrage damals auch im DNR diskutiert?
Helmut Röscheisen: Das war damals noch kein Thema. Der DNR hatte andere interne Probleme überhaupt handlungsfähig zu werden. Eine Herausforderung für den DNR war, dass er nicht nur Dachverband von Natur- und Umweltschutzorganisationen war, sondern damals stark geprägt von Organisationen, die die Natur genutzt haben – Jäger, Fischer, Wanderer, Reiter. Eine kritische Haltung zur Atomenergie, Kritik an der Massentierhaltung, das war zu der Zeit kaum möglich. Forderungen nach grundlegenden Veränderungen wie die Frage nach dem Wirtschaftswachstum waren tabu und wurden nicht thematisiert.
Aus den anderen Umweltverbänden gab es schon kritische Stimmen, wie an der Atomenergie und ein bisschen auch am Wirtschaftssystem. Diese kamen vor allem aus den sehr aktiven Bürgerinitiativen und deren Bundesverband BBU sowie auch aus dem damals noch jungen BUND.
Denkhaus Bremen: Im Laufe der 80er wurden die Grünen gegründet, und das Umweltministerium etabliert. Auch der BUND und andere Verbände sind in dieser Zeit erst entstanden. 1992 prägte die UNCED-Konferenz in Rio das Konzept der nachhaltigen Entwicklung.
Helmut Röscheisen: Das ging damals alles in Richtung grünes Wachstum. Es gab noch nicht diese Grundsatzfrage, ob man Wachstum überhaupt braucht oder ob man auch mit einem Wirtschaftssystem ohne Wachstum auskommt. Zumindest auf der offiziellen Rio-Konferenz war das kein Thema. Ich würde es eher als Versuch bezeichnen, mit den bestehenden Unternehmensformen und der bestehenden Logik die Probleme zu entschärfen.
Im Nachgang von Rio ist das Forum Umwelt und Entwicklung entstanden, das beim DNR angesiedelt ist und bis heute die wichtige Aufgabe hat, den Nachfolgeprozess zu betreuen.
Denkhaus Bremen: Sehen Sie denn in der stärkeren Einbindung von Unternehmen auch Chancen für den Umweltschutz oder birgt das vor allem Risiken?
Helmut Röscheisen: Das ist sehr unterschiedlich. Unternehmen sind natürlich auf die bestehenden Rahmenbedingungen angewiesen. Sie haben sicher einen gewissen Spielraum, den sie nutzen können. Es ist aber schwierig innerhalb eines Wirtschaftssystems, das klar auf Wachstum und maximale Renditen ausgerichtet ist, einen Kurs zu fahren, der ohne Wachstum auskommen möchte. Wenn sie das dennoch machen wollen, dann sind sie aus meiner Sicht natürlich immer willkommene Gesprächspartner.
Denkhaus Bremen: Hat der DNR mit Unternehmen zusammengearbeitet?
Helmut Röscheisen: Punktuell gab es das schon. In den 2000er Jahren hatten wir eine längere und enge Kooperation mit der Assoziation ökologische Lebensmittelhersteller (AeoL), die Produkte aus dem Ökolandbau verarbeiten. Das sind eher kleine und mittelständische Unternehmen mit denen es gemeinsame oder ähnliche Interessen gab. Wir wollten die biologische Vielfalt schützen, die zugleich Grundlage für die Produkte dieser Unternehmen ist. Eine Kooperation von Unternehmen und Umweltverbänden sollte jeweils geprüft werden und kann im Einzelfall durchaus sinnvoll sein.
Denkhaus Bremen: Noch einmal zurück zu Rio. Wie hat sich die Konferenz auf die umweltpolitische Debatte ausgewirkt?
Helmut Röscheisen: Mit zeitlicher Verzögerung wirkte sich der Begriff der nachhaltigen Entwicklung auf viele Bereiche aus. Es gab schon eine gewisse Aufbruchstimmung. In der Landwirtschaft gab es eine Hinwendung zum ökologischen Landbau, in der Energiewirtschaft einen Schwenk zu den erneuerbaren Energien, weg von Atomenergie und fossilen Brennstoffen. Beim Thema Ressourcen wurde die Effizienz wichtiger. Im Verkehrsbereich steht die Wende immer noch aus: Viele fahren zu große Autos oder benutzen den Flieger, auch unter Umweltschützern.
Denkhaus Bremen: Der Begriff Nachhaltigkeit ist weitgehend zu einer Worthülse geworden. Seit einigen Jahren nimmt die Debatte um Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch unter Stichworten wie „Degrowth“ und „Postwachstum“ wieder neue Fahrt auf. Wie schätzen Sie diese Diskussion ein? Kann das auch beim DNR eine Rolle spielen?
Helmut Röscheisen: Ich würde sogar noch weitergehen und behaupten, dass aus der Nachhaltigkeit eine Art Gegenentwicklung entstanden ist. Sehen Sie sich an, wie weit das Prinzip der maximalen Selbstverwirklichung und -optimierung zu Lasten des Gemeinwohlprinzips vorangeschritten ist. Das ist erschreckend. Es wird deutlich, dass nicht nur der Nachhaltigkeitsbegriff von der fortschreitenden Ökonomisierung fast vollständig erfasst wurde, sondern dass wirtschaftliches Denken inzwischen bis in die letzten privaten Bereiche hinein wirkt.
Eine Gesellschaft ohne Wachstum ist eine 180-Grad-Umkehr. Wir haben im DNR verschiedene Ansätze verfolgt. Ein Versuch war, das Konzept der sog. „2000-Watt-Gesellschaft“, das pro Kopf einen maximalen Primärenergieverbrauch von 2000 Watt vorsieht. Wir haben in Deutschland derzeit einen Verbrauch von etwa 8000 Watt, also Faktor vier. Dieses Modell haben wir im DNR nach langer Diskussion verabschiedet. Es blieb dann aber ein Stück Papier, weil die Mitgliedsverbände, mit Ausnahme des BUND und der Naturfreunde, nicht bereit waren,das richtig umzusetzen.
Denkhaus Bremen: Wachstumskritische Konferenzen haben besonders unter jungen Leuten großen Zulauf…
Helmut Röscheisen: Eines meiner Ziele als Generalsekretär des DNR war es, eine Art Nachwuchsförderung für die gesamte Umweltbewegung aufzubauen. Ich bin der festen Überzeugung, dass gut ausgebildete junge Menschen am ehesten in der Lage sind, die notwendigen weitreichenden Änderungen anzuschieben. In dem Programm „Zukunftspiloten“ haben wir bisher 160 Leute ausgebildet, mit ihnen diese entscheidenden Fragen diskutiert und sie in die Lage versetzt, die gewonnenen Erkenntnisse auch anzuwenden. Bis sich das dann in der Breite durchsetzt, das dauert natürlich.
Völlig klar ist auch, dass es für einen sozial-ökologischen Wandel die richtigen Partner braucht, auch von außerhalb der Umweltbewegung. Aus diesem Grund haben wir, mit Initiative von Michael Müller, gemeinsam mit dem DGB und der evangelischen Kirche 2012 einen Transformationskongress veranstaltet. Dort ging es genau um diese Frage, wie wir das Wachstumsthema in die Organisationen hineinbringen können. Das war allerdings eine Kopfgeburt, von oben nach unten- mit der Gefahr, dass der Prozess schnell versiegt, wenn die Köpfe einmal nicht mehr da sind.
Denkhaus Bremen: Welchen Eindruck haben Sie? Könnte diese Debatte in Zukunft noch an Fahrt gewinnen? Was bedeutet das konkret für die Umweltverbände?
Helmut Röscheisen: Es geht für die Verbände nicht zuletzt darum, Nachwuchs zu werben. Viele der Umweltverbände sind eher überaltert und haben gewisse Nachwuchssorgen, wie viele andere Organisationen auch. Die Frage nach ökologischen Lebensstilen und die Wachstumsdebatte als solche bieten da schon einige Brücken, um junge Leute für die eigene Arbeit zu begeistern.
Mir macht zumindest Hoffnung, dass gerade die jüngeren Leute in den Städten sich von der Fixierung auf das Auto als Statussymbol lösen. Neben dem Verkehr sehe ich da vor allem das große Thema Landwirtschaft. Dort gibt es den Versuch, die städtische Bevölkerung wieder stärker an den Anbau von Lebensmitteln heranzuführen. Die bewusste Ernährung ist heute einer der starken Trends. Dazu werden Modelle etabliert, um Nahrungsmittel aus der Region und direkt vom Bauernhof zu beziehen. Im Bereich der erneuerbaren Energien gibt es ähnliche Möglichkeiten.
Denkhaus Bremen: Wie ließen sich diese Diskussionen verstärkt in die Umweltverbände hineintragen?
Helmut Röscheisen: Meine Erfahrung ist, dass es die jeweiligen Persönlichkeiten sind, die einen Verband und seine Arbeit für eine gewisse Zeit stark prägen können, indem sie Impulse setzen. Über Personen lassen sich dann auch die von Ihnen behandelten Themen in den Verbänden verankern. Ausserdem könnte man wachstumskritischen Menschen aus anderen Bereichen eine Brücke in die Verbände schaffen, etwa durch einen zeitweiligen Mitarbeitertausch. So ließe sich der Austausch zwischen Umweltverbänden und wachstumskritischen Vereinen fördern, beide könnten sich mit ihren unterschiedlichen Perspektiven inhaltlich befruchten.
Denkhaus Bremen: Sehen Sie konkrete Ansatzpunkte, um soziale Gerechtigkeit und ökologische Themen zusammenzudenken?
Helmut Röscheisen: Diese Aspekte gehören absolut zusammen. Ich gebe ihnen ein Beispiel, wo das sehr deutlich wird. Gerade gestern habe ich zusammen mit Vertretern des BUND hier in Köln eine Pressekonferenz gemacht, wo es um eine sehr stark befahrene Straße zwischen Bergisch Gladbach und Köln ging. Dort fahren in Spitzenzeiten über 2.500 Autos pro Stunde, davon 200 LKW. Die Lärmbelastung liegt bei 77dB, bereits ab 65dB drohen Herz-Kreislauf-Beschwerden. Hinzu kommen Abgase, Stickoxide und Feinstaub. Und wer wohnt an dieser stark befahrenen Gladbacher Straße? Natürlich sind das Menschen mit geringem Einkommen, und das ist sicher einer der Gründe, warum dort 30 Jahre lang nichts passiert ist. Wenn einflussreiche Leute an dieser Straße wohnen würden, dann hätte es vielleicht längst Änderungen gegeben. Hier wird deutlich, wie Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit unmittelbar zusammenhängen. Und so lange sich die Umweltbewegung vorwiegend aus Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, fällt es natürlich schwerer, den Blick für soziale Ungerechtigkeit zu schärfen. Dazu fehlen häufig schlicht die Kontakte zu anderen Gruppen und zu anderen sozialen Milieus.
Und der Wahlausgang in den USA ebenso wie andere politische Entwicklungen zeigen deutlich: Wenn man die Interessen eines Großteils der Bevölkerung vernachlässigt, dann brechen diese sich auf andere, verhängnisvolle Weise Bahn. Von den Diskussionen um Wachstum sind die Leute ja noch viel weiter entfernt. Da müssen wir Alternativen anbieten. Und es gibt ja Möglichkeiten wie die Idee für ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie man Menschen sozial auffangen kann, ohne auf grenzenloses Wirtschaftswachstum setzen zu müssen. Da sind wir dann schnell bei der krass ungleichen Vermögensverteilung in diesem Lande, die letztlich auch eine Gerechtigkeitsfrage ist. Diese Themen müssen die Umweltverbände aufgreifen, wenn sie auch in Zukunft erfolgreich sein wollen.