Soziale Gerechtigkeit, Unkategorisiert, Zukunftslabore allgemein, Zukunftslabore von unten

Martin Tertelmann (Denkfabrik): Spaltung unserer Gesellschaft etwas entgegensetzen!

Martin Tertelmann ist Koordinator der Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande sowie Bereichsleiter für Presse und Medien des Sozialunternehmens Neue Arbeit gGmbH in Stuttgart. Für bundesweites Aufsehen sorgte die Denkfabrik mit der Studie „Gib mir was, was ich wählen kann.“, in der Langzeitarbeitslose selbst langzeitarbeitslose Nichtwähler zu ihren Motiven befragen. denkhausbremen hat am 08. Oktober 2018 das Denkfabrik-Team besucht und dieses Interview geführt.

denkhausbremen: Was genau ist die Denkfabrik und wie hat sie sich gegründet?

Martin Tertelmann: Ich bin seit acht Jahren beim Sozialunternehmen Neue Arbeit gGMBH für Pressearbeit und Marketing zuständig. Im Jahr 2012 haben wir im Zuge der Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise die großen Kürzungen im Sozialbereich, besonders bei der Arbeitshilfe, erleben müssen. Es wurden von der Regierung die Eingliederungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose insgesamt um etwa die Hälfte gekürzt. Darüber hinaus wurden die Rahmenbedingungen verschärft. Damals haben wir gesagt, wir wollen nicht nur reagieren, wir wollen anwaltschaftliche Lobbyarbeit für Langzeitarbeitslose auf allen föderalen Ebenen an den Start bringen. Darum haben wir die “Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande” gegründet. Wir machen uns keine Illusionen, dass wir die Welt auf den Kopf stellen können. Aber wo wir tätig werden können, da wollen wir auch was tun.

denkhausbremen: Wie war die Anfangszeit nach der Gründung?

Martin Tertelmann: Wir sind mit einfachen Veranstaltungen gestartet, haben uns in die Wahlkämpfe eingeschaltet und versucht, unsere Themen zu platzieren. Im Jahr 2013 kam dann die Nichtwähler-Studie der Bertelsmann-Stiftung mit dem Titel “Gespaltene Demokratie” heraus, die verdeutlichte, dass ausgegrenzte Langzeitarbeitslose und prekäre Schichten sich zunehmend aus der demokratischen Teilhabe zurückziehen. Das hat uns schockiert, weil wir gesagt haben: Die Langzeitarbeitslosen haben sowieso keine Lobby, jetzt gehen sie nicht mal mehr wählen. Da entsteht dann ein Teufelskreis: Die Ausgegrenzten beschimpfen die Politiker, dass sie sich nicht mehr um sie kümmern. Die Politiker wissen, die wählen mich eh nicht und kümmern sich daher noch weniger um Ausgegrenzte.

denkhausbremen: Wie sind Sie methodisch vorgegangen, um Ihre Themen nach vorne zu bringen?

Martin Tertelmann: Zuerst kam der Gedanke auf, wir müssen neue Formate entwickeln, um Langzeitarbeitslose wieder zur Wahlurne zu bringen. Das unterstellt aber, dass die Ursache für die Wahlenthaltung irgendwo bei den Nichtwählern liegt. Darum haben wir uns entschieden, die Motive der Nichtwähler zu erforschen. Da unter den Nichtwählern die Langzeitarbeitslosen überdurchschnittlich hoch vertreten sind haben wir und auf diese Zielgruppe fokussiert. Dann haben wir das Design für die qualitative Studie “Gib mir was, was ich wählen kann.” auf den Weg gebracht, die ein wichtiger Fokus unserer Arbeit in den letzten zweieinhalb Jahren war. Dabei wurden deutschlandweit über 70 Langzeitarbeitslose von ebenfalls langzeitarbeitslosen oder ehemals langzeitarbeitslosen Menschen auf Augenhöhe befragt.

denkhausbremen: Inwiefern waren selbst von Langzeitarbeitslosigkeit Betroffene an dem Gründungsprozess der Denkfabrik beteiligt?

Martin Tertelmann: Wir haben zu jedem Zeitpunkt Betroffene mit eingebunden, die sehr viel Input geliefert haben. Zum Beispiel war mein Kollege Friedrich Kern, der selbst Erfahrung mit Langzeitarbeitslosigkeit hat, von Beginn an bei der Denkfabrik dabei. In 2013 ging es dann für drei Jahre mit der öffentlich geförderten Beschäftigung durch Bürgerarbeit los. Sechs Langzeitarbeitslose haben dann in diesem Rahmen unsere Arbeit unterstützt und ihre Themen sehr aktiv eingebracht: Wir haben u.a. eine Veranstaltung “Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren” durchgeführt, die den von der Diakonie entwickelten Passiv-Aktiv-Transfer (PAT) vorgestellt hat, der Langzeitarbeitslose wieder in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bringen soll. Ein Langzeitarbeitsloser hat dann selbstständig zum PAT-Modell ein Erklärvideo erarbeitet.

Dann haben wir uns aktiv mit unseren Themen in Wahlkämpfe eingeschaltet, aber auch Gottesdienste mitorganisiert und ein Literaturprojekt und einen Kunstworkshop ins Leben gerufen. Ein sehr schönes Format ist auch “Betroffene berichten-Politiker hören zu”, wo Politiker zuhören müssen, bevor sie sich selbst äußern können. Mit der Friedrich-Ebert-Stiftung haben wir mit der Veranstaltung „Prognose 2025“ auch mal in die Zukunft geschaut, um die Lebensperspektiven von benachteiligten und arbeitslosen Menschen im Jahr 2025 zu prognostizieren. Zu allen diesen Themen und Veranstaltungen haben Langzeitarbeitslose sehr viel beigetragen und aktiv mitgestaltet.

denkhausbremen: Was ist Ihr inhaltlicher Schwerpunkt, Ihr Markenkern sozusagen?

Martin Tertelmann: Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit und der Spaltung unserer Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, das sind unsere zentralen Themen. Wir machen darauf aufmerksam, dass nicht nur die Schere zwischen arm und reich immer größer wird, sondern in Bezug auf Arbeit und Teilhabe auch zwischen drinnen und draußen. Wenn man die Spaltung der Gesellschaft überwinden will, muss man Begegnungen unterschiedlichster Menschen und Lebenswelten ermöglichen, im Besonderen zwischen Armen und Politikern. Das ist der Markenkern der Denkfabrik.

denkhausbremen: Wie halten Sie Ihre Arbeit kontinuierlich am Laufen?

Martin Tertelmann: Die Denkfabrik hat sich nach sechs Jahren einen Ruf erarbeitet. Wir werden als ein Ort für gute und wichtige Veranstaltungen im Bereich Spaltung der Gesellschaft und Langzeitarbeitslosigkeit wahrgenommen. Mir ist die enge Zusammenarbeit mit den Langzeitarbeitslosen total wichtig und wertvoll: Dass sie direkt mit am Tisch sitzen und ihre Meinung äußern können.

denkhausbremen: Wie sieht Ihr Netzwerk aus?

Martin Tertelmann: Wie sind im evangelischen Fachverband (EFAS) mit angeschlossen, da unsere Themen häufig bundesweite Relevanz haben. Wir haben Kontakte zur Bundes- Landes- und Kommunalpolitik sowie zu zahlreichen Stiftungen und anderen Netzwerken.

denkhausbremen: Wie sieht Ihre Presse- und Öffentlichkeitsarbeit aus?

Martin Tertelmann: Wir haben eine professionelle Pressestelle, die regelmäßig Pressemeldungen rausbringt. Dabei setzen wir vor allem über unsere Veranstaltungen unsere eigenen Themen. Mit der Studie “Gib mir was, was ich wählen kann.” haben wir bundesweit schon Furore bis in die Tagesthemen gemacht.

denkhausbremen: Stellen Sie auch konkrete Forderungen an Politik und Gesellschaft?

Martin Tertelmann: Wir haben eine Resolution zur Studie „Gib mir was, was ich wählen kann.” verfasst, die z.B. fordert, die Hartz IV-Sätze zu erhöhen, die Sorgen und Nöte von Menschen aus prekären Lebenslagen nicht länger zu ignorieren sondern wahr- und ernst zu nehmen und mehr und bessere Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose zu schaffen.  Wir unterstützen ferner die “Zukunftswerkstatt Solidarität”, die die Themen der Langzeiterwerbslosen lauter in die Gesellschaft tragen und mehr Solidarität mit den Betroffenen bewirken soll. Bisher wurden drei Ideen entwickelt: Solidarität als Schulpflichtfach, Recht auf Arbeit sowie ein parlamentarisches Plenum für Menschen in prekären Lebenslagen in Baden-Württemberg zu etablieren.

denkhausbremen: Was können Initiativen noch gegen eine weitere Spaltung der Gesellschaft tun?

Martin Tertelmann: Ich finde die Idee von parlamentarischen Gremien, die benachteiligten und langzeitarbeitslosen Menschen in prekären Lebenslagen eine Stimme geben, eine gute Sache. Diese gibt es in Form von Erwerbslosenparlamenten in Thüringen und Mecklenburg Vorpommern. Diese könnten in der Kommune, im Land und auf Bundesebene zentraler Ort und Ansprechpartner sein, jenseits von den vielschichtigen Strukturen der Wohlfahrtsverbände. Diese Gremien könnten die Belange der Armen und Prekären an die Politik kommunizieren. In Gesetzgebungsverfahren könnte so die Stimme der Betroffenen hörbarer gemacht werden. Es müssen Strukturen entstehen, wo die Betroffenen selbst partizipieren können. Ich persönlich glaube jedoch nicht, dass Benachteiligte und Langzeitarbeitslose das aus eigener Kraft stemmen können. Wir brauchen da einen Schulterschluss von Betroffenen und Professionellen.

denkhausbremen: Wie beurteilen Sie den Zustand der Demokratie in Deutschland?

Martin Tertelmann: Durch die enorme Schere zwischen Arm und Reich verfügen wenige Menschen über sehr viel Kapital und dieses Vermögen wird demokratischen Mitentscheidungs-Strukturen entzogen. So hat z.B. eine Lidl-Stiftung in Heilbronn wahnsinnig viel Geld und kann so selbst eine Agenda setzen und entscheiden was gefördert wird und was nicht. Das gleiche gilt im internationalen Rahmen z.B. für die Bill & Melinda Gates Foundation, deren Arbeit von NGOs auch sehr kritisch beurteilt wird. Daher ist es ganz wichtig, dass die Gesamtgesellschaft an der Demokratie teilhat.

Die Studie „Lebenslagen in Deutschland, Forschungsprojekt systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015“ hat belegt, dass je höher das Einkommen, desto stärker stimmen politische Entscheidungen mit den Meinungen der Befragten überein. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Menschen in prekären Lebenslagen politisch unterrepräsentiert sind. Dabei soll unsere repräsentative Demokratie bei ihren Entscheidungen die Anliegen und Interessen aller Bürgerinnen und Bürger in gleichem Maß berücksichtigen. Es darf keine systematische Verzerrung zugunsten einzelner Gruppen geben. In Aussagen wie „Die hören nicht zu“ oder „Wir haben nichts zu sagen“ bestätigen die von uns interviewten langzeitarbeitslosen Nichtwähler den Befund der Studie.