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Peter Hetzler (Andere Wege): Hartz-4-Bezieher*innen sind völlig entrechtet

Peter Hetzler von Andere Wege – Erwerbsloseninitiative Bergstraße im Gespräch mit denkhausbremen. Er ist freier Journalist, Hartz IV-Aufstocker und Autor von „Hartz 5 – Ein Hartz IV-Roman“.

denkhausbremen: Was unterscheidet Euch von den meisten Arbeitsloseninitiativen?

Peter Hetzler: Üblicherweise machen Erwerbslosengruppen Beratungen und haben Wohlfahrtsverbände oder kirchliche Organisationen als Träger. Die legen sich vor Ort nicht gerne mit den Behörden an, weil sie auf staatliche Gelder angewiesen sind. Wir sind hingegen eine unabhängige Initiative und haben keine Hemmungen, uns bei der etablierten Politik unbeliebt zu machen. An den Gesetzen können wir wenig ändern, aber wir haben hier durch das “Optionsmodell” eine gute Möglichkeit für politische Einflussnahme.

Kannst du das Optionsmodell kurz erläutern?

Hartz 4-Bezieher werden dabei nicht von der Bundesagentur für Arbeit betreut, sondern von einem kommunalen Eigenbetrieb. Begründet wird das damit, dass der Arbeitskräftebedarf vor Ort besser eingeschätzt werden könne. Das Modell gibt es in Hessen häufig. Der zuständige Betrieb heißt bei uns “Neue Wege”, weshalb wir uns “Andere Wege” genannt haben.

Bietet das Optionsmodell denn Vorteile?

Wenn man von der Bundesagentur für Arbeit verwaltet wird, kommt man nur an die Fallmanager vor Ort ran, aber nicht an diejenigen, die die ganzen Schweinereien beschließen. Die sitzen in Nürnberg. Das ist bei einem kommunalen Eigenbetrieb nicht grundsätzlich anders, aber wir können dort besser darauf drängen, dass wenigstens die paar Rechte, die Erwerbslose noch haben, auch umgesetzt werden, weil die dafür politisch Verantwortlichen öffentlich vor Ort zur Rechenschaft gezogen werden können.

Es gibt im Hartz-4-Gesetz sehr viele Gummiparagraphen, deren Auslegung in den Händen der Fallmanager sehr unterschiedlich ausfällt. Ein Beispiel aus der Praxis: In der Vergangenheit wurden bei uns alle Hartz 4-Bezieher aufgefordert, geschenkt bekommene Lebensmittel anzugeben, damit ihnen der Gegenwert vom Arbeitslosengeld abgezogen werden kann. Dagegen kann man vor Ort natürlich politisch vorgehen und Widerstand entwickeln, auch mit den lokalen Oppositionsparteien.

Aus politischer Sicht klingt das nachvollziehbar, aber die Anrechnung geschenkter Lebensmittel klingt nach sehr strikten Regelungen bei Euch…

Das war am Anfang so, ja. Mittlerweile benehmen sich die Zuständigen hier mehr oder weniger wie normale Menschen. Ein Fallmanager kann seine Machtgelüste an Erwerbslosen nur deshalb ausleben, weil die Betroffenen in der Regel ihre Rechte nicht kennen und der Fallmanager glaubt, am Ende ohnehin am längeren Hebel zu sitzen. Wenn er aber weiß, dass hinter dem Erwerbslosen eine Gruppe steht, die sein Verhalten am nächsten Tag auf Flugblättern, im Internet oder in der Zeitung öffentlich zur Diskussion stellt, dann ist das eine echte Gegenmacht. Die Erwerbslosen haben damit ein ganz anderes Standing. Wenn wir Erwerbslose zu Jobcenter-Terminen begleiten, sind die oft völlig erstaunt, wie nett ihr Fallmanager auf einmal ist.

Bist du so etwas wie der Sprecher, oder gibt es viele Leute, die in eurem Namen öffentlich auftreten?

Bei uns gibt es keine Vorsitzenden, keine Sprecher und auch sonst keine Bürokratie. Wir sind ein lockerer Haufen, und gerade das macht uns für die Gegenseite unberechenbar. Ich bin ein bisschen Aushängeschild, weil ich als Journalist natürlich für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig bin. Jemand anderes von uns sitzt dafür beispielsweise im Beirat von Neue Wege.

Sehen die großen Wohlfahrtsverbände oder die Kirchen euch als Konkurrenz?

Die kirchlichen und karitativen Verbände können Dialog, aber keine Konfrontation, und das muss man in diesem Fall können. Wir haben auch keinen Bock auf Streit, aber über vierzehn Jahre hat ein Fünftel aller Betroffenen hier an der Bergstraße auf die Miete im Schnitt noch 100 € drauflegen müssen. Das Geld musste man aus dem Regelsatz abzwacken, weil der Eigenbetrieb behauptet hat, für die von ihnen gezahlte Miete gäbe es Wohnungen. Diese Wohnungen gab und gibt es nicht, und das wusste jeder, auch die kirchlichen Gruppen. Die haben sich beschwert, und der Eigenbetrieb hat sie mit einer Statistik, die angeblich das Gegenteil nachweist, abgespeist. Damit war für die das Gespräch zu Ende. Für uns fängt es dann erst an.

Verlieren die Medien nicht irgendwann mal das Interesse, und das Thema ist in der Öffentlichkeit durch?

Nach vierzehn Jahren mit dem Thema Miete fällt dir nichts Neues mehr ein. Da hat die Presse irgendwann auch keine Lust mehr. Wichtig ist, dass man trotzdem dranbleibt. Durch unsere Initiative sind letztendlich externe Gutachter eingeschaltet worden, und die Sätze für Mieten sind jetzt erstmals realistisch. Aber natürlich hängt man auch mal durch und hat keinen Bock mehr, wenn man dauernd gegen eine sich selbst genügende Bürokratie anrennt.

Eine Schweinerei, die wir ebenfalls beenden konnten, war die PPA. PPA steht für die Personalpädagogische Agentur von Alberto Meier. Der hat hier eine halbe Millionen abkassiert für Arbeitslosen-Schulungen, die niemals richtig stattgefunden haben. Außerdem hat er Erwerbslose wie Dreck behandelt, übelst ausgenutzt und beleidigt. Auf unsere mehrfachen Beschwerden hat niemand reagiert. Erst als wir die Staatsanwaltschaft einschaltet haben, war Ende Gelände. Alberto Meier ist schweizer Staatsbürger, nach unserer Anzeige in die Schweiz geflüchtet und wird immer noch von Interpol gesucht. Das Beispiel zeigt, wie mit Erwerbslosen Geld verdient wird. Durch unsere hartnäckige Intervention musste am Ende aber nicht nur Meier, sondern auch der Leiter des Jobcenters und der Sozialdezernent des Kreises Bergstraße den Hut nehmen. Das sind Sachen, die kannst du nur bei Optionsmodellen durchsetzen.

Wie hat sich denn die Situation für Hartz-4-EmpfängerInnen in den letzten zehn, zwanzig Jahren entwickelt? Manche sagen der Arbeitsmarkt und damit die Position von Arbeitssuchenden hat sich etwas verbessert…

Ja, der Arbeitsmarkt zieht an, aber wie? Mittlerweile arbeitet jeder Vierte oder Fünfte in Deutschland in prekären Verhältnissen: Praktika, Zeitarbeitsfirmen oder befristete Verträge. Es war der Sinn von Hartz 4, solch einen Niedriglohnsektor zu schaffen und hat funktioniert, weil Hartz 4-Bezieher selbst Jobs annehmen müssen, die 30% unter Tarif bezahlt werden. Es gibt Leute, die haben zwei oder drei Jobs und können davon immer noch nicht leben.

Auf der anderen Seite hat man im Hartz 4-Regelsatz jeden Tag nur fünf Euro für Ernährung zur Verfügung. Davon kannst du dich nicht gesund ernähren. Diese Regelsätze werden künstlich heruntergerechnet. Jetzt sind wir zusätzlich mit Corona konfrontiert. Was passiert? Es werden Milliarden für Großkonzerne verpulvert, aber Erwerbslose bekommen keinen Cent mehr. Dabei müssen sie sich jetzt Masken kaufen und vielleicht ihre Hausapotheke auffrischen. Gleichzeitig haben die Tafeln teilweise geschlossen. Alle Lebensmittel im Supermarkt zu kaufen ist ungefähr so, als müsstest Du deine Klamotten in Zukunft in einer Boutique einkaufen. Dass es trotz allem keinen Cent mehr gibt zeigt den Stellenwert, den Erwerbslose in dieser Gesellschaft haben.

Könnte die aktuelle Lage eine Möglichkeit für die Einführung eines Grundeinkommens sein?

Es gibt ernstzunehmende Argumente gegen das Grundeinkommen, im wesentlichen aus ökonomischen Gründen. Aber es gibt auch die Ansicht, dass sich das ganze durch die dann wegfallende Bürokratie zu einem großen Teil selbst finanziert. Das kann ich nicht beurteilen, denn Zahlen sind nicht mein Fall. Es ist aber auch egal, wie das Ding letztendlich heißt. Im Prinzip könnte man die Bedürftigkeitsprüfung und die Sanktionen bei Hartz 4 abschaffen und noch vier- bis fünfhundert Euro drauflegen, dann hätten wir ungefähr den gleichen Effekt. Gerade jetzt in Zeiten von Corona, wo Künstler und Kellner mit dem Rücken zur Wand stehen, könnte ein flächendeckendes Grundeinkommen Existenzängste vermeiden helfen. Die Leute wären abgesichert und es gäbe weniger Protest gegen die aktuellen Maßnahmen. Mir geht es darum, dass jeder Mensch das Recht auf ein Einkommen hat, von dem er leben kann – ob er arbeitet oder nicht. Wir leben im viertreichsten Land der Welt und haben seit Jahren zwei bis drei Millionen Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Und keine der seit dem regierenden Parteien hat etwas dagegen unternommen.

Die Betroffenen von Niedriglohnsektor und Erwerbslosigkeit sind bislang in der Demokratie ein schlafender Riese. Siehst du eine Möglichkeit, diese Menschen aus dem unteren Einkommenssegment politisch wirksam werden zu lassen?

Leider nicht. Als Hartz-4-Bezieher giltst du als Loser, das ist das öffentliche Image. Die Menschen schämen sich wirklich. Wenn wir Infostände in der Innenstadt machen bleibt keiner stehen, und wenn doch mal, dann geht es angeblich immer um einen Freund, der ein Problem hat. An Demos brauchst du da gar nicht erst denken.

Um meine Erlebnisse damit zu verarbeiten, habe ich einen anarchischen Hartz-4-Roman geschrieben. Die Protagonisten sind nicht brav und bieder, sondern wehrhaft. Der stieß bei kirchlichen und karitativen Gruppen oft auf Ablehnung. Wenn ich dagegen Lesungen gemacht habe, meist vor Betroffenen, waren die Leute begeistert.

Du siehst im politischen Spektrum eine Kraft, die das halbwegs abdecken könnte?

Wenn Die Linke mal klar Kante zeigen würde, statt nach einer Regierungsbeteiligung im Bund zu schielen und über ihre diesbezügliche Anpassungsfähigkeit zu debattieren, wären wir einen Schritt weiter. Das sehe ich aber bislang nicht – es geht eher in die andere Richtung.

Wie siehst du den Zustand der Demokratie in Deutschland?

Demokratie ist besser als andere Regierungsformen, aber wie demokratisch ist unser Land tatsächlich? Die Konzerne schreiben die Gesetze selbst, ob im Lebensmittel-, Umwelt- oder Automobilbereich. Wenn hier tatsächlich die Menschen, und nicht finanzstarke Lobbygruppen das Geschehen bestimmen würden, wären einige Sachen anders.

Nach meiner Erfahrung kann man außerparlamentarisch oft mehr erreichen als in einer Partei. Eine Oppositionspartei stellt einen Antrag im Parlament, der in der Regel abgelehnt wird, und nächste Woche ist ein anderes Thema an der Reihe. Wenn du selbst betroffen bist, steht das Thema solange auf der Tagesordnung, bis es weg ist, und du kannst natürlich außerparlamentarisch ganz andere Aktionsformen wählen. Der Vorteil einer Demokratie ist wiederum, dass eine – halbwegs – unabhängige Justiz auch Beschlüsse von Parlamenten kippen und Unrecht korrigieren kann.

Das ist ein guter Punkt. Sind es nicht letztendlich oft die Gerichte, die die Rechte von Hartz-4-EmpfängerInnen durchsetzen?

Ja. Ungefähr der Hälfte der Widersprüche von Erwerbslosen gegen Jobcenter-Bescheide wird stattgegeben. Da kann man mal sehen wie schlampig die Jobcenter arbeiten. Aber das Gericht hilft im Einzelfall nicht immer: Wenn du zum Beispiel einen sinnlosen Ein-Euro-Job nicht machen möchtest, legst du Widerspruch ein. Der wird dann im Jobcenter zwei Zimmer weiter abgelehnt. Das kannst du theoretisch vom Sozialgericht überprüfen lassen, aber einen Termin bekommst Du wegen der Überarbeitung der Gerichte frühestens in einem Jahr. Bis zu einer Entscheidung musst du die Maßnahme aber trotzdem machen, sonst bekommst du Leistungskürzungen. Es gibt noch die Möglichkeit, einen Eilantrag zu stellen, aber selbst da wartest du drei bis vier Wochen auf einen Gerichtstermin.

Das Grundgesetz mit dem Artikel „alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ ist für Hartz-4-Bezieher faktisch abgeschafft. Wenn du alleinerziehend bist und eine Krankenversicherung für deine Kinder brauchst, dann kannst du das nicht mal eben für einen Monat in die Tonne treten und warten, bis das Gericht – hoffentlich für dich – entscheidet. Hartz-4-Bezieher sind in vielerlei Hinsicht völlig entrechtet.


Peter Hetzler: Hartz 5 – Ein Hartz IV-Roman

„Schluss mit dem Gejammer! In diesem Roman lernt man nicht nur die kafkaesken und entwürdigenden Bedingungen kennen, denen Hartz 4-Bezieher unterworfen sind. Hier gibt es auch die Erwerbslosen-Initiative Hartz 5, deren Mitglieder die Jobcenterbürokratie mit unkonventionellen Methoden und anarchischem Witz aufmischen.“ (Klappentext zum Roman)