Soziale Gerechtigkeit, Zukunftslabore allgemein, Zukunftslabore von unten

Erika Biehn (VAMV): Ich möchte ein Sandkorn im Getriebe sein!

Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV) wurde 1967 als „Verband lediger Mütter“ gegründet. Er vertritt heute bundesweit die Interessen von 2,7 Millionen Einelternfamilien, von Familien also, in denen ledige, getrennte, geschiedene oder verwitwete Eltern mit ihren Kindern leben. denkhausbremen hat mit der Vorsitzenden Erika Biehn am 15.4.2019 in Essen dieses Interview geführt. Erika Biehn hat darüber hinaus die Nationale Armutskonferenz (nak) mitgegründet.

denkhausbremen: Wie ist Ihr Verband gegründet worden?

Erika Biehn: Der Verband ist 1967 in Herrenberg von Luise Schöffel, einer ledigen Mutter, die gleichzeitig Lehrerin und Ratsherrin war, gegründet worden. Die Situation für ledige Mütter war damals noch sehr anders und sie hatten oft gesellschaftlich und rechtlich einen schweren Stand. Das ging teilweise bis zur Wegnahme des Kindes, weil ihnen nicht zugetraut wurde, ihre Kinder eigenständig ordentlich großzuziehen. Das kann natürlich heute auch noch geschehen, aber nicht mehr nur weil die Mutter alleinerziehend und unverheiratet ist. Da hat sich schon einiges geändert. Frau Schöffel hat damals in einer überregionalen Zeitung eine Anzeige geschaltet und über 100 Zuschriften zurückbekommen, mit zum Teil extremen Geschichten darüber, wie hart die Ämter junge, ledige Mütter behandelten. Das war der Anstoß zur Gründung des Verbands, der erst “Verband lediger Mütter” hieß.

Da schnell klar wurde, dass auch geschiedene Mütter in einer ähnlichen Situation waren, wurde der Name in “Verband alleinerziehender Mütter” geändert, die Väter wurden 1976 mit in den Titel aufgenommen. Der VAMV ist also ein Verband mit einer langen Geschichte. Die Landesverbände wurden dann nach und nach in den 70er Jahren gegründet: Die erste Bundesgeschäftsstelle war in Frankfurt ansässig und zog dann erst nach Bonn und später mit in die neue Hauptstadt Berlin um.

denkhausbremen: Waren da am Anfang noch andere Personen an der Gründung beteiligt? Wie hat sich der Verband konkret entwickelt?

Erika Biehn: Neben Luise Schöffel waren von Anfang an auch betroffene Frauen aus anderen Städten dabei. Das waren zunächst hauptsächlich gut situierte Frauen, die einkommensschwächeren Alleinerziehenden kamen erst später dazu. Das war und ist natürlich auch eine Frage der Ressourcen, im Sozialhilfebezug ist oft einfach kein Geld da, um z.B. zu Veranstaltungen zu fahren.

denkhausbremen: Unser Projekt “Zukunftslabore von unten” beleuchtet Initiativen, in denen Menschen sich selbst organisiert haben. Ist das beim VAMV der Ansatz, der verfolgt wurde?

Erika Biehn: Das stimmt, zu uns kommen in der Hauptsache geschiedene, verwitwete oder ledige Väter und Mütter, wobei die Väter natürlich eher in der Minderheit sind. In diesen Fällen sind die Mütter meist verstorben oder aus anderen Gründen nicht in der Lage, an der Erziehung mitzuwirken. Seit 2013 hat sich die Rechtslage geändert, so dass alleinerziehende Väter jetzt nicht mehr die völlige Ausnahme sind. Uns ist sehr wichtig, dass wir als Selbsthilfe organisiert sind, auch wenn wir seit vielen Jahren auch hauptamtliche Mitarbeiter haben.

denkhausbremen: Mit welchen Schwierigkeiten hatten Sie denn in diesem Organisationsprozess zu kämpfen?

Erika Biehn: Die Finanzierung war ein Problem, da es am Anfang keinerlei Zuschüsse vom Bund oder den Ländern gab. In der ersten Zeit waren die Aktiven auch eher Frauen mit guten finanziellen Ressourcen. Für Frauen mit weniger gutem Einkommen war die Arbeit im Verband oft mit viel Aufwand verbunden, z.B. um sich die Fahrtkosten zusammenzusparen.

denkhausbremen: Das ist ja bei vielen Initiativen ein Problem. Oft haben Menschen es mit geringem Einkommen oder niedrigen Lohnersatzleistungen sehr schwer, sich politisch einzubringen, weil einfach die finanziellen Ressourcen fehlen. Wie finanziert sich Ihr Verband?

Erika Biehn: Es gibt es durchaus Förderer, z.B. Stiftungen, Verbände oder öffentliche Träger, wie z.B. das Bundesfamilienministerium. Daneben finanzieren wir uns über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Wir stellen natürlich auch konkret Projektanträge, z.B. um die Kinderbetreuung bei der Bundesdelegiertenkonferenz zu finanzieren.

denkhausbremen: Wie viele hauptamtliche Mitarbeiter und Mitglieder hat der Verband?

Erika Biehn: Wir sind ein gemeinnütziger Verein mit etwa 6.000 Mitgliedern. In der Bundesgeschäftsstelle arbeiten sechs hauptamtliche Mitarbeiter meist in Teilzeit. Viele unserer Mitglieder sind Frauen, die von Leistungen nach SGB II leben, das war früher die Sozialhilfe. Natürlich gibt es auch eine größere Anzahl weniger einkommensschwache Mitglieder im Verband, was von Zeit zu Zeit auch zu Reibereien führt. Insgesamt überwiegen aber die Gemeinsamkeiten und die ähnlichen Situationen, in denen sich die Mitglieder befinden, z.B. Probleme mit dem Ex-Partner oder der Kinderbetreuung. Das Miteinander steht da im Vordergrund.

[Das Foto zeigt Projektleiter Michael Gerhardt mit Erika Biehn am 15.04.2019 in Essen.]

denkhausbremen: Wie sieht es mit Bündnispartnern aus? Arbeiten Sie mit Verbänden oder politischen Institutionen zusammen?

Erika Biehn: Ja, das ist ja heute gang und gäbe, sonst kommt man nicht weit. Der Bundesverband ist Mitglied beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Dann sitzen wir in der Arbeitsgemeinschaft der Familienorganisationen und sind Mitglied im Deutschen Frauenrat. Wir werden regelmäßig vom Rentenbündnis gegen Altersarmut angesprochen oder auch von anderen Gruppierungen. Punktuell arbeiten wir auch mit den Gewerkschaften zusammen. Das ist natürlich für den Verband mit viel Arbeit und Aufwand verbunden, aber solche Bündnisse sind meiner Meinung nach sehr wichtig. Nur wenn wir mit Verbänden und Organisationen reden, können wir überhaupt etwas bewegen. Ohne solche Bündnisse und Unterstützungspartner hätten wir zum Beispiel nie erreicht, dass der Unterhaltsvorschuss jetzt bis zum 18. Lebensjahr des Kindes gezahlt wird. Das war unsere ureigenste Forderung, der sich andere Verbände dann angeschlossen haben.

denkhausbremen: Viele Initiativen, die wir im Rahmen unseres Projekts besucht haben, berichteten von einem Spannungsfeld zwischen Selbstorganisation und der Zusammenarbeit mit Professionellen. Wie ist da Ihre Einschätzung?

Erika Biehn: Ich habe selbst die Nationale Armutskonferenz mitgegründet, die ja auf Betreiben der EU initiiert wurde. Aus Deutschland war zu Beginn nur ein Beobachter dabei und es wurde schnell klar, dass auf der deutschen Ebene eine ähnliche Struktur gegründet werden musste. Einerseits, damit wir im europäischen Netzwerk akzeptiert werden, aber auch, weil die Nationale Armutskonferenz die Betroffenenverbände brauchte. Damals wurde mir auch häufig die Frage gestellt, wie wir mit den Wohlfahrtsverbänden klar kommen. Natürlich gab es von deren Seite viele Vorbehalte gegenüber der Kompetenz der Selbsthilfegruppen und Verbände, vieles natürlich unausgesprochen, aber umgekehrt waren auch von Seiten der Betroffenenverbände Vorbehalte gegenüber den Wohlfahrtsverbänden vorhanden.

denkhausbremen: Ähnliches haben uns andere Verbände und Organisationen geschildert. Deren Erfahrung war, dass sie häufig trotz guter Vorbereitung und offensichtlicher fachlicher Kompetenz manchmal nicht mehr ernst genommen wurden, sobald sie erwähnten, dass sie z.B. Hartz 4 –Empfänger oder Wohnungslose sind. Sehen Sie da in der Arbeit mit den Wohlfahrtsverbänden auch noch ein ungleiches Verhältnis?

Erika Biehn: Ja, das stimmt sicherlich, ist meiner Meinung nach aber weniger geworden. Bei Wohnungslosen-Initiativen kann ich mir das noch sehr gut vorstellen, dass solche Situationen vorkommen. Da ist das Leben auf der Straße noch stärker von Vorbehalten betroffen. Ich selbst habe es in dieser Form so nicht erlebt, weil ich gelernt habe, entsprechend aufzutreten: Ich habe mir mit Beharrlichkeit einen gewissen Ruf erarbeitet. Darüber hinaus habe ich mir auch von den Sachbearbeitern im Sozialamt keine falschen Informationen auftischen lassen. Da hat mir geholfen, dass ich bereits lange Jahre aktiv war und wusste, wen ich fragen konnte. Das Verhältnis mit Professionellen ist sicherlich noch nicht völlig auf Augenhöhe, aber es hat sich deutlich verbessert.

denkhausbremen: Was sind die politischen Forderungen Ihres Verbands?

Erika Biehn: Auf jeden Fall fordern wir neben der Einführung einer Kindergrundsicherung die Einführung des Umgangsmehrbedarfs im SGB II bei getrennt lebenden Eltern. Ein Beispiel: Geht das Kind z.B. am Wochenende zum Vater, so wird der Mutter entsprechend Leistung abgezogen. Bezieht der Vater selbst Hartz 4, so bekommt er für das Kind an diesem Wochenende aber nicht mehr Leistung. Beiden Elternteilen fehlt dann also Geld.

denkhausbremen: Viele dieser Themen betreffen ja vor allem Hartz 4 –Bezieher. Wie ist Ihre Position zum Modell Hartz 4?

Erika Biehn: Meine persönliche Meinung nach ist Hartz 4, so wie es umgesetzt wird, eine Katastrophe. Bei einer Anwendung des Gesetzes im Sinne der Betroffenen wäre es vermutlich halb so schlimm, die Realität sieht aber leider ganz anders aus. Auch Alleinerziehende sind z.B. von Sanktionen betroffen.

denkhausbremen: Was halten Sie von alternativen Modellen wie z.B. dem bedingungslosen Grundeinkommen?

Erika Biehn: Ich bin nicht ganz überzeugt davon. Um den Menschen ein einigermaßen menschenwürdiges Leben sichern zu können, müsste ein Grundeinkommen so hoch liegen, dass wohl keine der Parteien das mittragen würde. Außerdem stellt sich ja auch die Frage nach Krankenversicherung und Rentenversicherung. Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob das das richtige Modell wäre. Besser wäre ein Ausbau der bestehenden Sozialsysteme und die Abschaffung von Sanktionen. In diesem Zusammenhang fordern wir ja auch eine eigenständige Kindergrundsicherung, die dann natürlich nicht auf Hartz 4 angerechnet werden darf. Das wäre schon eine große Verbesserung.

denkhausbremen: Sie sind ja selbst schon eine lange Zeit im VAMV aktiv, 41 Jahre! Wie haben Sie es geschafft sich über diese lange Wegstrecke immer wieder zu motivieren für Ihre Sache zu kämpfen? Gab es auch mal Phasen, in denen Sie ans Aufhören gedacht haben?

Erika Biehn: Es hat sicherlich Phasen gegeben, in denen ich gedacht habe „Jetzt habe ich keine Lust mehr“. Aber mir ist die Idee hinter dem VAMV so bedeutsam, dass ich immer auf Landes- bzw. Bundesebene aktiv geblieben bin. Ich habe so viel im Verband gelernt, da war es mir immer sehr wichtig, dieses Wissen auch weiterzugeben. Das hat mir Motivation gegeben, weiterhin im VAMV aktiv zu bleiben. Ich hatte nie das Ziel, Bundesvorsitzende zu werden, das hat sich einfach so ergeben. Das Amt ist sozusagen zu mir gekommen, aber ich bin froh, dass es so gekommen ist. Im Bundesvorstand habe ich die Möglichkeit, viel mehr auf die bundesweiten Gesetze einzuwirken, z.B. durch Gespräche mit Fachpolitikern und Mitgliedern der Bundestagsfraktionen. Oft lässt sich auf dieser persönlichen Ebene viel mehr bewegen, als nur durch Stellungnahmen des Verbands. Der direkte Kontakt hat mir immer viel Spaß gemacht.

denkhausbremen: Es gibt den Vorwurf, dass gerade selbstorganisierte Gruppen von einkommensschwachen Menschen in der Realität nicht wirklich an politischen Entscheidungen teilhaben können. Haben Sie den Eindruck, dass sie als selbstorganisierter Verband echten politischen Einfluss haben oder werden Sie nur quasi als „Feigenblatt“ an Gesprächen beteiligt?

Erika Biehn: Als Feigenblatt würde ich uns nicht sehen. Ich denke durch unsere Arbeit und Beteiligung an Gesprächen können wir immerhin dafür sorgen, dass Gesetze nicht einfach durchgewunken werden. Ich möchte ein Sandkorn im Getriebe sein! So können die Politiker dann nicht sagen „das haben wir nicht gewusst“ und sind gezwungen, Argumente vorzubringen. Außerdem gibt es immer wieder kleinere und größere Erfolge, siehe Unterhaltsvorschuss bis zum 18. Lebensjahr.

denkhausbremen: Vor dem Hintergrund, dass sich die verschiedenen Teile und Milieus unserer Gesellschaft immer weiter auseinanderleben und wenig voneinander wissen, kam von einigen Gruppe die Forderung nach einem Bundesbeauftragten für Wohnungslose und Langzeitarbeitslose. Wie beim ja schon existierenden Bundesbeauftragten für behinderte Menschen wäre die Politik dann verpflichtet, diese bei Gesetzesvorhaben zu befragen. Würde ein solches Konzept, also vielleicht auch ein Bundesbeauftragter für Alleinerziehende, für Sie Sinn machen?

Erika Biehn: Diese Überlegung gab es tatsächlich schon, aber wir haben sie nicht wirklich intensiv verfolgt. Hier würde ich nämlich tatsächlich in einem solchen Beauftragten eine Alibifunktion sehen, denn eine von der Bundesregierung oder z.B. der Kanzlerin eingesetzte einzelne Person kann nicht wirklich die Betroffenen vertreten. Da braucht es vielmehr eine basisdemokratisch verankerte Struktur, die mit einem Bundesbeauftragten nicht gegeben wäre. Ich bin da also eher skeptisch.

denkhausbremen: Wie sieht es in Ihrem Verband mit Nachwuchs bei den Aktiven aus? Haben Sie da Menschen, denen Sie Ihr Wissen weitergeben können?

Erika Biehn: Da ich eigentlich bald in den Ruhestand gehen möchte, würde ich gerne mein Wissen weitergeben. Mir wird leider oft gesagt, dass ich „zu große Fußstapfen“ hinterlasse – dabei hatte ich am Anfang auch keine Ahnung und musste in die Verantwortung hineinwachsen. Mein Wissen ist ja auch im Laufe von 40 Jahren gewachsen, durch Workshops, Kontakte mit anderen Leuten und durch Erfahrung. Wenn jede Person sich in einem Themenbereich Wissen aneignet und man sich dann in einer Gruppe zusammentut und austauscht, ist das Wissen gleich viel größer. Ich würde mich sehr freuen, wenn neue Leute damit anfangen und aktiv werden. Insgesamt haben wir aber keine großen Probleme auf Bundesebene Nachwuchs an Aktiven z.B. für ein Amt im Bundesvorstand zu bekommen.

denkhausbremen: Viele Initiativen und Gruppe haben das Thema Selbstermächtigung angesprochen und die Notwendigkeit, selbst politische Bildung zu betreiben und Wissen zu erarbeiten. Würden Sie diesen Ansatz unterstützen?

Erika Biehn: Das würde ich absolut unterstützen! Wichtig ist, dass politische Bildung und Fortbildung auch einkommensschwachen Menschen zugänglich ist.

denkhausbremen: Was würden Sie neuen Initiativen oder Menschen, die eine Interessensvertretung gründen wollen, raten?

Erika Biehn: Das Wichtigste ist, dass man am Anfang eine kleine Gruppe mit gemeinsamen Zielen haben muss, die sich gut versteht. Ein „harter Kern“ von Aktiven sozusagen, denn man kann nicht alles alleine machen und braucht die Unterstützung einer festen Gruppe. Dadurch entsteht auch die sehr hilfreiche Mundpropaganda, die durch persönliche Kontakte zustande kommt. So kann eine Initiative dann wachsen.

denkhausbremen: Zum Abschluss würde ich gerne Ihre Bewertung zum allgemeinen Zustand der Demokratie in Deutschland erfahren…

Erika Biehn: Ich bin froh, dass es bei uns noch eine Demokratie gibt, vor allem mit Blick auf Länder, in denen sie bedroht ist. Mir ist klar, dass es auch bei uns Probleme gibt, aber man kann immerhin noch wählen und es gibt noch eine Rechtssicherheit. Wichtig ist, dass wir unser Recht erkämpfen und Widerstand leisten können, notfalls auch über die Gerichte.