Nikolas Migut ist erster Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins StrassenBLUES e.V.. Die Initiative hat sich zum Ziel gesetzt, Obdachlosen kreative Wege aus der Armut aufzuzeigen. Der Verein will in den gemeinsamen Begegnungen den gesellschaftlichen Status überwinden und sich mit Menschen auf der Straße auf Augenhöhe austauschen. denkhausbremen hat am 09. Januar 2019 dieses Interview mit Nikolas Migut in Hamburg geführt.
[Das Beitragsfoto von Katharina Meßmann zeigt Nikolas Migut mit seiner Frau Milena Migut, die 2. Vorsitzende von StrassenBLUES e.V. ist.]
denkhausbremen: Was war der Initialzündung zu Ihrem Engagement für obdachlose Menschen?
Nikolas Migut: Ich habe als Journalist schon länger über Armut berichtet: Über Altersarmut zum Beispiel, da habe ich einen Film gemacht über Menschen um die 80, bei denen die Rente nicht reicht. Zunächst war das ein Bericht für das ARD-Magazin Panorama, anschließend wurde daraus noch ein Dokumentarfilm und ich war nun im Thema Armut richtig drin. Dann habe ich gemeinsam mit einem Kollegen dem NDR vorgeschlagen, einen Film über Obdachlosigkeit zu drehen. Das haben wir dann in der Obdachloseneinrichtung Bahnhofsmission am Zoo in Berlin auch realisiert. Da kommen rund 600 Leute täglich hin und werden verpflegt. Hier bin ich dem Betroffenen Alex begegnet, der mich sofort fasziniert hat. Er hatte wie ein Theaterschauspieler in meine Kamera gesprochen, war aber auch sehr melancholisch. Diesen Menschen wollte ich unbedingt näher kennenlernen.
denkhausbremen: Was hat das mit Ihnen gemacht?
Nikolas Migut: Ich habe gemerkt, dass ich als Filmemacher nicht nur Probleme beschreiben möchte, sondern aktiv etwas tun will. Da bin ich aus meiner Rolle als beobachtender Journalist raus. An dieser Stelle stehe ich immer noch. Deswegen habe ich dann den Verein StrassenBLUES gegründet.
denkhausbremen: Wie können sich Betroffene oder Interessierte in den Verein einbringen?
Nikolas Migut: Es ist ganz klar, dass wir keine Sozialarbeiter sind, sondern Geschichtenerzähler. Wir arbeiten aber schon mit Sozialarbeitern – vor allem in Hamburg – zusammen. Wir arbeiten auch mit Wohnungslosen und ehemals Wohnungslosen zusammen: Neben dem schon erwähnten Alex ist die ehemals Obdachlose Rosi Behnken Gründungsmitglied unseres Vereins. Alex hat Gedichte geschrieben, Rosi hat in ihrer Zeit als Obdachlose fotografiert. Die Ergebnisse von beiden haben wir jetzt als StrassenBUCH veröffentlicht. Wir sind also gemeinsam kreativ. So ist es auch beim jährlichen StrassenWEIHNACHTSWUNSCH, bei dem sich Menschen mit und ohne Obdach auf Augenhöhe begegnen. Dort entstehen dann auch nachhaltige Kontakte.
denkhausbremen: Können Sie Ihre Initiative StrassenWAHL erläutern?
Nikolas Migut: Mit dieser Aktion haben wir wohnungs- und obdachlose Menschen darüber informiert, dass sie ein Wahlrecht haben, was viele nicht wussten. Es ist nämlich auch eine Eintragung ins Wahlregister ohne Personalausweis und auch ohne festen Wohnsitz möglich. Wen sie wählen können, haben wir mit dem Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung vermittelt. Dazu sind wir neben der Öffentlichkeitsarbeit mit Videos und Printprodukten auch direkt in Obdachloseneinrichtungen gegangen.
denkhausbremen: Wie viele wohnungs- bzw. obdachlose Menschen haben denn von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht?
Nikolas Migut: Im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 haben sich in Hamburg nach Angaben des Landeswahlleiters zur letzten Bundestagswahl 99 Menschen ohne festen Wohnsitz in das Wählerverzeichnis eingetragen. Das ist eine Steigerung von 73 Prozent. Unsere zweite Zielgruppe waren die Nichtwähler. Da haben wir versucht mit einer bundesweiten Plakataktion mit dem Wohnungslosen Horst, der wählen geht, zum Urnengang zu motivieren. Die Leute sollten denken: “Wenn sich sogar ein Wohnungsloser die Mühe macht, um wählen zu gehen, warum wähle ich dann eigentlich nicht?” Das Wahlrecht ist ein wichtiges Mittel zur gesellschaftlichen Partizipation. Die Hamburger Landeswahlleitung hat nun zugesagt, dauerhaft über das Wahlrecht von Wohnungs- und Obdachlosen zu informieren.
denkhausbremen: Was sagen Sie zu dem möglichen Vorwurf, dass Sie eine marketinggerechte Hochglanzwelt zeigen, die mit der echten Lebensrealität von Obdachlosen wenig zu tun hat?
Nikolas Migut: Ich komme aus der Medienwelt und glaube, dass die Öffentlichkeit empathisch wird, wenn sie sich angesprochen fühlt. Je professioneller und emotionaler die verwendeten Videos und Fotos sind, desto mehr erreicht man die Menschen. Das ist bei Dokumentarfilmen und Fotografien so, auch ein schöner Text hilft. Wir sind authentisch. Wir zeigen, was da ist, aber wir zeigen es in einer Form, wo die Menschen andocken können. Ich glaube an den Spruch “tue Gutes und rede öffentlich darüber”. Das machen andere Organisationen, wie z.B. Greenpeace, auch nicht anders. Wenn man was macht, sollte man es auch professionell machen. Wir bringen da unsere langjährige Erfahrung aus der Medienwelt ein.
denkhausbremen: Hat Ihr Verein hauptamtliche Mitarbeiter?
Nikolas Migut: Wir arbeiten alle ehrenamtlich und werden vereinzelt von Hilfskräften unterstützt. Die Hilfe von Medienprofis kommt zum Großteil aus meinem Netzwerk. Wenn wir wachsen würden, könnten wir gegebenenfalls andere Organisationen mit unserer Medienkompetenz unterstützen. Dazu sind wir derzeit aber noch zu klein.
denkhausbremen: Lässt sich ein Verein wie StrassenBLUES an anderen Orten vervielfältigen?
Nikolas Migut: Bisher unterstützen mich viele Menschen aus meinem journalistischen Netzwerk und teilen z.B. auf sozialen Medien unsere Aktionen. Die größte Schwierigkeit bei unserem Verein ist nicht etwa Geld oder Inhalt, sondern die Zeit der Aktiven. Es gibt bereits zahlreiche Anfragen, warum wir unser Weihnachtsevent nicht auch in anderen deutschen Städten anbieten. Dazu fehlen derzeit derzeit die Kapazitäten. Vielleicht klappt es dieses Jahr, dass wir die Weihnachtsveranstaltung auch bundesweit anbieten können. Dauerhaft kann ich mir vorstellen, dass wir auch Hauptamtliche einstellen.
denkhausbremen: Wie soll sich die Partizipation von Obdachlosen in Ihrem Verein weiterentwickeln?
Nikolas Migut: Da setzt unser Projekt StrassenKREATIONEN an. Wir wollen verstärkt kreative Produkte gemeinsam mit Obdachlosen erschaffen. Für diese Kunstprodukte wollen wir einen Online-Shop für den Verkauf einrichten. Der Shop wird dann auch die obdachlosen Künstler individuell mit einem Video oder mit einer Fotogeschichte vorstellen. Wir wissen durchaus, dass nicht alle Obdachlosen kreative Produkte herstellen können. Wir planen daher auch die Herstellung von Dingen, die fast jeder Mensch machen kann. Mein Ziel ist, dass mindestens 50 Prozent der Einnahmen bei den Obdachlosen ankommen.
denkhausbremen: Hat Ihr Verein auch politische Forderungen?
Nikolas Migut: Bisher haben wir sehr viele Menschen vor allem über soziale Medien über die unhaltbare Lebensrealität von Obdachlosen informiert, aber auch über die immense Zunahme von Wohnungslosigkeit. Neben direkten Forderungen wie Ausbau des sozialen Wohnungsbaus sowie eine verstärkte Einführung von “Housing First” (der/die Obdachlose bekommt zuerst eine Wohnung – ohne wenn und aber – und danach wird sich um seine/ihre finanzielle Probleme, psychische Probleme, Suchtprobleme usw. gekümmert) ist unser Verein nun dabei positive Lösungsansätze zu formulieren, StrassenIDEEN sagen wir dazu. Also nicht negativ in Richtung der “bösen” Regierung und Politik kommunizieren, sondern positiv als Angebot oder Idee.
denkhausbremen: Ist Ihr Verein dann nicht im mediengerechten Wellness-Bereich der Debatte unterwegs? Muss man Verantwortlichkeiten nicht auch direkt benennen?
Nikolas Migut: Die Kritik sollte man nicht aussparen. Wir wollen nur gleichzeitig in Aussicht stellen, dass es eine Lösung ja gibt und die auch gleich öffentlich mit anbieten, wie z.B. durch das “Housing First”. Ich glaube es ist erfolgreicher, wenn man eine Forderung immer mit einer Lösung verknüpft.
denkhausbremen: Gehen wir zum Schuss mal auf die Metaebene. Haben Sie Ideen, wie wir das zunehmende Auseinanderfallen unserer Gesellschaft in oben und unten stoppen oder sogar umkehren können?
Nikolas Migut: Wir sind schon dabei, da was zu machen. Es gibt bereits Patenschaften für Kinder und Flüchtlinge. Warum gibt es keine Patenschaften für Obdach- und Wohnungslose? Da wäre zwar die Ungleichheit nicht aufgehoben, aber es findet wieder eine regelmäßige Begegnung statt. Wir wollen das StrassenGEBURTSTAG nennen. Obdachlose feiern dann wie beim Weihnachtsevent gemeinsam mit Nicht-Obdachlosen ihren Geburtstag, der sonst auf der Straße kaum gefeiert wird. Im besten Fall entstehen dann daraus nachhaltige Patenschaften. Das ist eine Aktion, die zumindest einzelne Teile der Gesellschaft wieder näher zusammenbringt. Der Kern unseres Vereins ist Empathie und Kreativität: Zusammen etwas Künstlerisches zu schaffen, kann auch verschiedenste Milieus zusammenführen.